Eine riesige Hanfplantage im Rifgebirge
Red. Walter Aeschimann ist freischaffender Historiker und Publizist. Im Oktober 2019 ist er mit dem Fahrrad und Interrail nach Spanien gereist und hat in Melilla die Grenze nach Marokko überquert. In den vergangenen Wochen war er mit dem Velo in Marokko unterwegs
Wenn im Morgengrauen die ersten Reisebusse kommen, sitzt die Frau schon da. Die Frau mit dem grossen, aus Palmenblättern geflochtenen Hut. Sie kauert so reglos an der Wand, als sei sie eine von Künstlerhand geschaffene Skulptur. Aber manchmal streckt sie langsam ihre dünne Hand aus und hebt leicht den Kopf. Ihr Kleid muss einst eine schöne, farbige Djellaba gewesen sein. Nun ist der bodenlange Kapuzenmantel ein staubiger, zerschlissener Überwurf.
Tag für Tag fahren vollklimatisierte Busse von Tanger, Fès, Tétouan oder Meknès her und laden Hunderte Touristen aus. Für einige ist die Frau an der Ecke Avenue Hassan II/Avenue Zerktouni das erste, was sie sehen, wenn sie dem Gefährt entsteigen. Viele Besucher greifen mechanisch zum Fotoapparat und halten diesen Eindruck fest. Manche beziehen Dirham aus dem Geld-Automaten der Banque Populaire Agence Chefchaouen gleich nebenan, ehe sie dem Guide in die Medina (Altstadt) folgen.
Erst kamen Hippies, dann Reisegruppen aus aller Welt
Chefchaouen ist eine kleine Stadt im Nordwesten von Marokko. Sie liegt am Rande des stark zerklüfteten Rifgebirges, das 350 Kilometer fast parallel zur Küste des Mittelmeeres verläuft. Chaouen, wie die Einheimischen sagen, ist mit 40’000 Bewohnern die grösste Stadt im Rifgebirge und sieht von ferne aus, als klebe sie am Hang oder am mächtigen Felsen oberhalb. Sie galt als heilige, verbotene Stadt. Wenn ein Fremder sie betrat, wurde er mit dem Tod bedroht. In den 1960er-Jahren strandeten erste Vertreter der Hippieszene hier. Sie suchten nach authentischen Lebensformen und fanden jede Menge Drogen, mit denen sie träumend den Tag verbrachten. Das faszinierte vorerst Rucksack- und Individualtouristen, ehe die globale Tourismusbranche den Ort für sich einforderte.
Die kleine, wunderschöne Medina von Chefchaouen zählt heute zum Pflichtprogramm vieler Marokkoreisender. Ein kräftiges Blau schmückt fast jeden Winkel. Es soll den bösen Blick vertreiben und die Menschen vor Unheil schützen. Das intensive Blau und der geheimnisvolle Reiz arabischer Religiosität ist zum Werbe-Etikett erstarrt: «Die blaue Perle von Marokko». Als offizielles Gründungsjahr der Medina, die sich hangaufwärts verbreitert, gilt 1471. Sie wurde erst von indigenen Berbern bewohnt und später architektonisch von Muslimen und Juden aus Andalusien geprägt.
Ein intensives Blau schmückt fast jeden Winkel der Gassen. Es soll die Menschen vor Unheil schützen. (Bild: Walter Aeschimann)
Für Touristen sind die farbigen Gassen der Medina vor allem eine exotische Fotokulisse. (Bild: Walter Aeschimann)
Die Gassen verlaufen irritierend, manchmal geht es gar nicht weiter. Zum Beispiel bei Hassan. Der dunkle Raum sieht aus wie ein gewöhnliches Kellerloch mit einer tiefen, schmalen Zugangstür. Aber hier bäckt Hassan Batbout, ein marokkanisches Fladenbrot. Geschickt zerhackt der junge Mann den dicken Holzklotz und richtet die offene Feuerstelle her. Während er den Teig vorbereitet und das Feuer nun Funken speit, treten ungefragt Touristen in den Raum und knipsen diese bäuerliche Lebenswelt. Für Hassan scheint das kein Problem. Er reagiert gelassen. «Ich habe mich daran gewöhnt. Manchmal ergeben sich auch interessante Gespräche. Nur wenn Gruppen kommen, wird es mir zu eng». Man kann auch andere Handwerker bei der Arbeit sehen, etwa Schreiner, die Möbelstücke reparieren, Schneider, die mit Nadel und flinken Händen Djellabas nähen oder Teppichweber an ihren Handwebmaschinen. Es sind friedliche Impressionen.
Um die Ecke ändert sich die Szenerie. Einzelreisende, Familien und Gruppen aus den USA, China oder Westeuropa wälzen sich durch Passagen, die überfüllt sind mit bunten Angeboten. Sie fotografieren jeden blauen Flecken, machen Selfies mit den Marktfrauen, die an den Mauern sitzend ein paar Orangen und Kaktusfeigen offerieren oder betreten private Hauseingänge. Von Overtourism zu sprechen ist hier nicht falsch, aber ungenau. Während Luzern, Venedig oder Barcelona hoch entwickelte Tourismusorte in reichen Regionen sind, scheint hier alles viel komplexer und sozial instabil. Man ahnt, dass mehrere Welten parallel verlaufen.
Touristenströme wälzen sich durch die Medina. (Bild: Walter Aeschimann)
In einer ruhigen Seitengasse treffe ich einen Mann, der mich wie einen alten Freund begrüsst: «Hallo! Wir haben uns draussen vor der Medina schon gesehen», sagt er auf Französisch. Ich kann mich nicht erinnern, aber er hat erreicht, dass ich innehalte. Er stellt sich als Mohammed vor. Ich sage meinen Namen, dass ich Schweizer bin und Fahrradreisender. «Ich war verheiratet in der Schweiz, bei der SBB angestellt und spreche ‹na es bizeli Schwizertüütsch›», sagt Mohammed. Der schmale Mann sitzt auf der Treppe vor der Eingangstür und stopft sich ruhig die Sebsi. Die traditionelle, marokkanische Pfeife hat einen langen, dünnen Holm und einen kleinen Pfeifenkopf. Ich setze mich zu ihm. Bald sind wir vom süsslich verführerischen Rauch umhüllt. «Ich habe guten Kiff. Rauchst Du auch?», fragt er mich. Nein, aber ich würde gerne mehr über die Haschischproduktion in Marokko erfahren. «Für 50 fahre ich dich zu einem Haschischbauern. Dort kannst du auch Fotos machen», sagt Mohammed. Das Angebot steht in keinem Reiseführer.
Rund 200’000 Bauern leben von der Haschisch-Produktion
Cannabis ist in Marokko illegal. Doch im Rifgebirge gelten andere Gesetze. Seit je keimte hier anarchisches Gedankengut. 1920 proklamierten Berberstämme die autonome Rif-Republik. Ein Jahr später besiegten die Partisanen im Rif-Krieg Spanische Söldnertruppen. Als Marokko 1956 unabhängig wurde, forcierte die neue Regierung die «ethnischen Differenzen» zwischen Berbern und Arabern. Sie dominierte die Staatsführung mit arabischen Eliten aus den Zentren und nahm den nicht-arabischen Berberstämmen ganze Landstriche weg – und die Unabhängigkeit. Viele zogen in die grossen Städte oder emigrierten nach Westeuropa. Die Rif-Region gehört heute zu den ärmsten in Marokko. Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und autonomen Strukturen sind geblieben. Sie werden oft gewaltsam ausgedrückt.
Die Pfeife qualmt unverdrossen weiter und Mohammed erzählt von den Haschischbauern. Obwohl andere «den fetten Gewinn» erzielen und die Regierung sicherlich daran verdienen würde, sei die Haschischproduktion für viele Bauern «die einzige Möglichkeit, zu überleben. Auf jedem freien Flecken werden Pflanzen angebaut. Wir können sofort losfahren. In einer Stunde sind wir zurück», sagt Mohammed. Bevor wir ins Auto steigen, will ich Mohammed 50 Dirham zahlen. Das sind fünf Schweizer Franken. «Nein, ich meinte natürlich 50 Euro.» Bis zur letzten Feilscherei um den Preis wird auch nicht klar, ob ich dem Bauern nochmals 50 Euro zahlen müsste und was ich sehen könnte. Die Ernte, sage ich, sei doch im August und September erfolgt. Die Fahrt kommt nicht zustande.
Landschaft am Rande des Rifgebirges: Das zerklüftete Bergland gilt als grösstes Anbaugebiet von Cannabis für den europäischen Markt. (Bild: Walter Aeschimann)
Auf rund 125’000 Hektaren wird die Cannabis-Pflanze kultiviert und das berauschende Harz der Blüten zu rund 5000 Tonnen Haschisch verarbeitet. 200’000 Bauern sollen mit der Produktion 800’000 Menschen ernähren, wie UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung schätzen. Das Rifgebirge gilt als grösstes Anbaugebiet von Hanf für den europäischen Markt. Chefchaouen ist der Mittelpunkt. Mit Hilfe von Immigranten soll es gelungen sein, leistungsfähige Verteilstrukturen aufzubauen. Die Polizei führt sporadisch Razzien durch und zerstört die Ernten, falls die Bauern kein Schmiergeld zahlen. Das können sie meistens nicht. Die Regierung hat versucht, Alternativen zu forcieren, etwa Obst und Gemüse. Bei einem 15-Milliarden-Markt schaut das Königreich aber nicht genau hin. Es duldet die Produktion der berauschenden Gewächse. Die sollen hier vor Jahrhunderten eigenständig gewuchert sein. Der überlieferte Volksglaube geht davon aus, dass Allah während des Schöpfungsprozesses diesen Ort für die Cannabispflanze vorgesehen hat.
Zum «Sunset» hinauf auf den Hügel
Der Pfad ist schmal und staubig, aber gut ausgetreten. Ich steige mit einer Gruppe Jugendlicher aus China den Berg hinauf. Sie reisen in sieben Tagen durch Marokko. «Heute Abend wollen wir den Sonnenuntergang sehen», sagt die junge Frau im luftigen Kleid. Der «Sunset» ist der grandiose Höhepunkt für jene, die im Ort übernachten. Hunderte Touristen sind auf dem Weg nach oben. Wir laufen unterhalb des mächtigen Felsens durch, passieren zerfallende Gebäude, aus Bambus notdürftig geflochtene Zäune und blaue, verschlossene Blechtüren, die zu bäuerlichen Anwesen führen, manche queren wir. Ein kleines Mädchen sitzt im Staub und bietet Basbousa an, Süssgebäck aus Gries. Ein Tourist wirft ihm einen Dirham hin ohne ein Stück zu kosten. Das Mädchen schaut verwirrt zurück.
Die Moschee Jamaa Bouzzafer oberhalb der Stadt ist ein beliebter Aussichtspunkt. Am Abend wird es auf dem Vorplatz eng. (Bild: Walter Aeschimann)
Das Abendlicht taucht die Medina in einen geheimnisvollen Schimmer. Zur Sunset-Time sind alle Kameras im Anschlag. (Bild: Walter Aeschimann
Das Ziel liegt zwei Kilometer ausserhalb des Ortes und 150 Höhenmeter oberhalb der Altstadt-Mauer. Es ist die Moschee Jamaa Bouzzafer, erbaut während des Rif-Krieges 1921. Hier versteckten sich die Guerillakrieger und beobachteten ihre Feinde. Auf der Plattform vor der Moschee ist es heute Abend eng. Langsam verschwindet die Sonne am Horizont. Ein junger Mann zupft an Gitarrensaiten bis eine Melodie erkennbar wird: «Blowin› in the Wind», die ikonische Hymne der Flower-Power-Zeit. Von oben öffnet sich ein neuer Blick. Im Abendlicht erscheint die Medina noch blauer und farblich intensiver. Fast unwirklich, als Kulisse in die karge, weitgehend verlassene Gegend hineingestellt, die sengende Hitze und der mächtige Felsklotz als dramaturgische Erweiterung. Als sei es eine Inszenierung der Tourismusbranche.
Wer profitiert vom Rummel?
Die neue Perspektive verändert auch die Position. Die Kluft zwischen Besuchern und Umgebung scheint noch augenfälliger. Ökologisch sensibles Reisen ist weltweit bedenkenswert geworden. Ein kritisches Gespräch über sozial bewusstes Reisen wird hingegen kaum geführt. Ein Ort in dieser tief verarmten Region, als ultimative Tourismus-Sensation umarmt – wie könnte dies würdevoll geschehen? Ich finde spontan keinen hier, der mein Unbehagen teilt. Für den Hotelier, der auch Radfahrer ist und mir Bilder von seinen Touren zeigt, ist «die Grenze des Unzumutbaren noch nicht erreicht». Mein Aufenthalt dauert drei Tage, zu kurz, um lokale Strukturen zu erkennen – etwa, wer von dieser Entwicklung profitiert und ob die Bevölkerung teilhaben kann.
Auf der Plaza Uta al-Hammam, im Zentrum der Medina, ist die grosse Atlas-Zeder wie ein Weihnachtsbaum geschmückt. Eine Gruppe spielt marokkanische Folklore, mit kleinen Armtrommeln und der Gimbri, einem Saiteninstrument. Die Reisenden aus China tauchen ins Gewusel des Platzes ein und suchen ein passendes Restaurant. Es gibt zahllose Angebote, auch chinesische. Ausserhalb der Medina, vor dem Lycee Imam El Chadili, ist ein kleiner, bunter Abendmarkt. Es duftet nach frischen Broten. Einheimische treffen sich zum engagierten Schwatz. Im Cafe Al Zahra, am Übergang zur neuen Stadt, schauen rund fünfzig Männer das Fussball-Länderspiel Marokko gegen Libyen an. Ich zwänge mich dazwischen und bestelle einen Tee. Wie üblich in Marokko in einem hohen Glas mit frischer Minze und reichlich Zucker aufgebrüht.
Kleiner Abendmarkt: Hier treffen sich Einheimische auf einen Schwatz. (Bild: Walter Aeschimann)
«Marhabaan» sagt der Kellner. Das heisse «Hallo» auf Arabisch. Er lässt mich das Wort lange wiederholen, bis er die Betonung akzeptiert. Die Frau mit dem grossen Hut kauert noch an der Wand. Sie löffelt aus dem Plastikteller eine Bohnensuppe, die ihr der Kellner gegeben hat. Die Reisebusse sind abgefahren. Das Fussballspiel endet Null zu Null. Ich zahle fünf Dirham für den Minzentee und sage «Bonne nuit». «Shukraan wadaaeaan», ruft der Kellner, das bedeute: «Danke und auf Wiedersehen».
Mit dem Velo in Marokko:
- Teil 1: «No Fotos!»
- Teil 2: «Guter Kiff aus den Bergen»
- Teil 3: «Kommen Sie, ich zeige Ihnen mein Haus!»
Weitere Reiseberichte auf Infosperber:
- DOSSIER: Mit dem Velo durch die Türkei
- DOSSIER: Anders reisen – Umwelt schonen
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.