Die Über-Krise
Wir haben es schon oft gehört. Unsere Aufmerksamkeitsspanne wird kürzer, wir lassen uns schneller ablenken, werden vergesslicher. Neurologen wie Gerald Hüther (Wir informieren uns zu Tode) oder Manfred Spitzer (Digitale Demenz) mahnen regelmässig und durchaus kontrovers: Internet- und Smartphonenutzung können unseren Körpern schaden und damit auch unsere Gesellschaften verändern.
In seinem Buch Abgelenkt: Wie uns die Konzentration abhandenkam und wie wir sie zurückgewinnen (riva, 2022) untersucht Johann Hari ein ähnliches Themenfeld. Hari ist allerdings kein Experte, der von akademischer Autorität lebt. Er ist ein britischer Journalist mit Schweizer Wurzeln. Im Buch agiert er wie ein interdisziplinärer Forscher, der Zusammenhänge aufspürt, herstellt und weiterverfolgt.
Dazu gehört auch: Er trifft die Forschenden hinter den Studien persönlich und befragt sie. Und: Hari zeigt Widersprüche und Ungewissheiten in der Forschung, legt eigene Zweifel offen.
Dabei geht er von einem persönlichen Dringlichkeitsgefühl aus. Haris grosses Problem ist primär von ihm selber wahrgenommen. Wissenschaftlich erforscht ist es erst punktuell.
Hari verabscheut seine eigene konzentrationsschwache Fremdbestimmtheit. Er vergeudet Zeit im Netz, lässt sich oberflächlich unterhalten. Gleichzeitig stellt er fest, dass er nicht tut, was er eigentlich tun will: Bücher lesen, vertiefte Auseinandersetzung, Probleme lösen. Lange habe er sich selber die Schuld gegeben, gemeint er sei faul oder undiszipliniert, er müsse sich halt zusammenreissen.
Ein krisenhafter Grundzustand
Doch mit seiner Recherche identifizierte Hari mehr als eine persönliche Krise. Er fand vielmehr eine Art krisenhaften Grundzustand, eine Über-Krise, die andere Krisen befeuert. Weil sie politische Lösungen verlangt, lässt sie sich nicht individuell lösen. Und sie kann deshalb niemanden kaltlassen. Seine These: Wenn die Aufmerksamkeitsfähigkeit grundsätzlich sinkt, lässt auch die Problemlösungsfähigkeit nach. Von uns als Individuen und von uns gemeinsam als Gesellschaften.
«Demokratie erfordert die Fähigkeit einer Bevölkerung, lange genug zuzuhören, um echte Probleme zu erkennen, sie von Hirngespinsten zu unterscheiden, Lösungen zu finden und ihre politischen Entscheidungsträger zur Verantwortung zu ziehen, wenn sie diese nicht liefern. Wenn wir das nicht mehr schaffen, verlieren wir unsere Fähigkeit, eine voll funktionierende Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Ich glaube nicht, dass es ein Zufall ist, dass die Aufmerksamkeitskrise zur gleichen Zeit stattfindet wie die schlimmste Krise der Demokratie seit den 1930er-Jahren.»
Einzelne Gründe und Facetten des Problems sind zwar bekannt. Dass falsche Ernährung, zu wenig Schlaf, Push-Meldungen von Smartphones in Hosentaschen oder manipulative Features von Social-Media-Plattformen unserer Aufmerksamkeitsfähigkeit schaden können, ist nicht neu. Dass Multitasking kontraproduktiv wirkt, auch nicht. Unsere Gehirne sind limitiert. Für seriöse Auseinandersetzung brauchen wir Fokus.
Lesenwert ist das Buch trotzdem, denn Hari findet neue Zusammenhänge und zeigt Kräfte, welche die Über-Krise zusätzlich befeuern und seltener diskutiert werden.
- Der Informationsüberfluss
Mit der ersten gross diskutierten Studie stellt Hari die Aufmerksamkeitskrise prominent in den Kontext des Internets als medientechnologischer Neuerung an sich. Die Hauptquelle unserer Erschöpfung ist für Hari nämlich der Informationsüberfluss. Ein Team um den Dänen Sune Lehmann konnte einen Zusammenhang zwischen verfügbarer Informationsmenge und Aufmerksamkeitsschwund zeigen. Die Studie zeigt auch: Die letzte technologische Veränderung ist anders als die vorherigen. Diesmal erleben wir eine schnellere «Erschöpfung unserer Aufmerksamkeitsressourcen».
Für Lehmann birgt dies die Gefahr einer gesellschaftlichen Spaltung mit einfachem Muster: Auf der einen Seite eine Gruppe, welche die Aufmerksamkeitserschöpfung erkennt und bewusst damit umgeht. Und auf der anderen Seite eine Gruppe, die weniger Möglichkeiten hat, sich den daraus ergebenden Manipulationsgefahren zu entziehen.
- Wir lesen immer oberflächlicher
Mancherorts haben wir uns diesem Informationsüberfluss bereits angepasst. In entgrenztem Online-Umfeld lesen wir nämlich anders als auf bedrucktem Papier in Büchern, Zeitungen oder Magazinen. Dies zeigt die jüngste Leseforschung (ein wichtiges Buch darüber ist zum Beispiel Maryanne Wolfs Schnelles Lesen, langsames Lesen). Für Haris Argument ist dies relevant, weil viele Menschen Lesen als einen Zustand tiefer Konzentration wahrnehmen. Hari besuchte die Norwegerin Anne Mangen. Ihre Studien haben gezeigt, dass wir auf Bildschirmen Texte eher überfliegen und dazu neigen, sie oberflächlich nach für uns relevanter Information zu filtern.
Das Problem: Nach einer Weile beginnen wir auch auf Papier derart oberflächlich zu lesen. Zudem konnte sie eine «Bildschirmunterlegenheit» belegen. Im Vergleich zur Lektüre eines Buchs verstehen Menschen am Bildschirm Gelesenes schlechter und können es auch schlechter behalten. Wichtig dabei: Diese Auswirkungen von Bildschirmlesen wiederum senken das Lesevergnügen an sich. Hari dazu: «Das ist so, wie wenn man zunimmt und es immer schwieriger wird, Sport zu treiben.»
- Stress, Traumata und ADHS
Ein ähnlicher Wirkungskreis existiert auch in anderem Zusammenhang: Wer gestresst ist oder ständig Angst hat, kann Ablenkungen schwerer widerstehen. So schnitten indische Zuckerrohrpflücker nach Abschluss der Ernte (mit Lohn in der Tasche) bei IQ-Tests deutlich besser ab als vor der Ernte. Ähnlich wirken Gewalterfahrungen, denn auch unverarbeitete Traumata können Auswirkungen auf die Aufmerksamkeitsfähigkeit haben. Kinder, die in einem Umfeld mit hohem Stresslevel aufwachsen, werden mit grösserer Wahrscheinlichkeit mit ADHS diagnostiziert.
Hari zitiert den Kinderpsychologen Alan Sroufe, der erklärt: Wenn man sehr jung und aufgeregt ist, braucht man einen Erwachsenen, der einen besänftigt. Mit der Zeit lernt man, sich selber zu beruhigen, wenn man als Kind genügend beruhigt wurde. Man verinnerlicht die Beruhigung und Entspannung, die einem die Familie vermittelt hat. Gestressten Eltern fällt es jedoch ohne eigenes Verschulden schwerer, ihre Kinder zu beruhigen, weil sie selbst so aufgeregt sind. Das bedeutet, dass ihre Kinder nicht lernen, sich auf dieselbe Weise zu beruhigen. Und so reagieren sie in schwierigen Situationen eher mit Wut und Verzweiflung. Verhaltensstörungen wie ADHS sind also nicht zuerst genetisch bedingt und daher medikamentös zu behandeln. Ob Gene in einem bestimmten Verhalten zum Ausdruck kommen, hängt auch stark von Umwelteinflüssen ab.
- Kindliches Spiel hat wichtige Funktion
Heute wenden Kinder viel mehr Zeit für Hausaufgaben auf als noch vor 20 Jahren. Sie dürften auch viel mehr Zeit alleine vor Bildschirmen verbringen. Dabei lernen Kinder beim freien Spiel in der Gruppe sehr viel, was die Grundlage für selbstbewusste Persönlichkeiten mit gesunder Aufmerksamkeitsfähigkeit bildet. Dadurch erlernen Kinder nämlich: 1. Kreativität und Vorstellungskraft, also das Durchdenken und Lösen von Problemen. 2. soziale Bindungen einzugehen, also Kontakte zu knüpfen und Beziehungen zu pflegen. 3. Freude und Vergnügen zu erleben. «Wenn man ein Mensch sein will, der voll und ganz zuhören kann, braucht man diese Grundlagen des freien Spiels», sagt im Buch Spiel-Forscherin Dr. Isabel Behncke. Aufmerksamkeitsfähigkeit braucht also lustvolle, unbewusste Übung.
Hari fordert Aufmerksamkeitsrebellion
Als Schlussfolgerung fordert Hari eine Bewegung. Er nennt sie Attention Rebellion – Aufmerksamkeitsrebellion – und listet konkrete Forderungen auf. Hari fordert Veränderungen in folgenden drei Bereichen:
- Datenschutz: ein komplettes Verbot des Überwachungskapitalismus gegen gezieltes Aufmerksamkeitshacking.
- Arbeitnehmer-Rechte: eine Vier-Tage-Woche gegen chronische Erschöpfung.
- Bildung und Erziehung: mehr Bewegung und freies Spiel für Kinder.
Zudem schreibt Hari die stetige Beschleunigung dem Primat des Wirtschaftswachstums zu. In einem seiner letzten Sätze schreibt er: «Ich glaube, wenn eine Aufmerksamkeitsrebellion beginnt, werden wir uns früher oder später auch mit dem tiefgreifenden Problem befassen müssen: der Wachstumsmaschinerie selbst.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Für mich ist der «Soundtrack» zu diesem fatalen Phänomen «Senses Working Overtime» von XTC:
https://www.youtube.com/watch?v=NrcemZpOmpI