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Synes Ernst, Spiel-Experte © cc

Der Spieler: Zwischen Chaos und Ordnung

Synes Ernst. Der Spieler /  Würfelspiele zählen gemeinhin als einfache Spiele, als Spiele für Alle. Es gibt Ausnahmen. „Ganz schön clever“ ist so eine.

Wer über breite Spielerfahrung verfügt, vor umfangreichen Spielanleitungen nicht zurückschreckt sowie komplexe Anforderungen strategisch-taktischer Natur liebt, wählt kaum ein Würfelspiel, um spielerisch auf seine Rechnung zu kommen. Auch das Familienspiel bietet ihm zu wenig. Denn dieser Typ von Spieler sucht nicht in erster Linie die Unterhaltung, sondern die Herausforderung. Die findet er im so genannten „Kennerspiel“.

Der Begriff ist seit ungefähr zehn Jahren in der Spieleszene bekannt. Die höhere Weihe erhielt das Kennerspiel 2011, als die Kritiker-Jury neben dem „Spiel des Jahres“ (rotes Logo) und dem „Kinderspiel des Jahres“ (blaues Logo) eine dritte Kategorie schuf, das „Kennerspiel des Jahres“ (anthrazitfarbenes Logo). Und wie die „roten“ Preisträger , etwa „Tikal“, „Siedler von Catan“, „Carcassonne“, „Dominion“ und „Codenames“ im Bereich des Familienspiels stil- und genreprägend waren, waren dies ab 2011 „7 Wonders“, „Village“, „Exit“, um nur diese drei zu nennen, für das Kennerspiel.

Vor diesem Hintergrund ist es durchaus eine Überraschung, dass die Jury mit „Ganz schön clever“ ein Würfelspiel auf ihre aktuelle Nominierungsliste zum „Kennerspiel des Jahres“ gesetzt hat. In ihrer Begründung spricht die Jury von einem „flotten Würfelspiel mit gehobenem Anspruch“ und schreibt weiter: „Autor Wolfgang Warsch hat mehrere Mini-Aufgaben so intelligent miteinander verknüpft, dass die Spieler mit jedem Wurf eine knifflige Entscheidung treffen müssen. Das erzeugt Spannung und weckt Ehrgeiz, in immer wieder neuen Partien den Highscore hochzutreiben.“ Klingt gut, ist damit aber bereits ein Kennerspiel beschrieben?

Einfaches Meccano

Gehen wir der Sache nach und beginnen bei der Spielanleitung. Diese ist in der Tat lang, im Vergleich zu jener anderer Würfelspiele sehr lang und ausführlich. Ich kenne viele Spielerinnen und Spieler, die schon aufgrund dieser Tatsache einen grossen Bogen um „Ganz schön clever“ machen würden. Wer „Ganz schön clever“ spielen will, muss also bereit sein, sich mit einer längeren Spielanleitung auseinanderzusetzen (ausser, er führe sich eines der Erklär-Videos auf Youtube zu Gemüte oder habe das Glück, von einem didaktisch geschickten Erklärer in das Spiel eingeführt zu werden). Immerhin kann ich an dieser Stelle bereits verraten, dass es sich lohnt, das Regelheft zu studieren.

Kommen wir zum Spielablauf. Er basiert auf einem einfachen Meccano: Zuerst Würfel werfen, anschliessend auf die Ergebnisse nach bestimmten Regeln auf einem Blatt notieren, dies mit dem Ziel, möglichst Punkte zu erzielen. Fertig! Nun, das ist auch bei einem Yatzee der Fall. Wo liegt da der Unterschied? Die Antwort ist simpel: Im Spielblatt, auf dem die Würfelpunkte notiert oder abgehakt werden. Es ist eingeteilt in verschiedene Felder, deren Farben mit jenen der Würfel korrespondieren (es gibt eine Ausnahme, auf die ich hier aber nicht eingehe). Die Ergebnisse, die man mit dem gelben Würfel erzielt, kommen ins gelbe Feld, und so weiter. Ein weisses Farbfeld gibt es nicht, da der weisse Würfel ein Joker ist. Seine Augenzahl darf überall verwendet werden.

Raffiniertes Gebilde

Auch das würde die Bezeichnung „Kennerspiel“ noch lange nicht rechtfertigen. Der Clou von „Ganz schön clever“ liegt darin, dass sich die Wertungen in den einzelnen Farbfeldern unterscheiden. Und zwar derart nuanciert, dass man als Spieler mehrere Runden benötigt, um seine Strategie zu optimieren. Ich bewundere den Autor, dem es gelungen ist, ein derart raffiniertes Gebilde zu schaffen, an dem wir uns nun stundenlang die Zähne ausbeissen können. Es gibt Spielerinnen und Spieler, die eine Extremstrategie fahren und auf wenige Farben setzen, andere wiederum bevorzugen ein ausgewogenes Vorgehen und notieren ihre Kreuze und Zahlen in verschiedenen Feldern. Beiden ist aber gemeinsam, dass sie darauf achten, Bonuspunkte und Zusatzaktionen zu bekommen. Solche Goodies sind in der Regel spielentscheidend.

Trotz aller Komplexität ist und bleibt „Ganz schön clever“ ein Würfelspiel. Das heisst: Die Zahlen, die ich für die Wertung verwenden kann, sind zufällig. In „Ganz schön clever“ kommt hinzu, dass ich abwechslungsweise „passiver“ Spieler bin und in dieser Rolle mit Würfelergebnissen vorlieb nehmen muss, die mir der „aktive“ Spieler auf dem Silbertablett übrig lässt. Eine mitunter fiese Sache!

Drei Spannungsfelder

Der Zufallsfaktor in „Ganz schön clever“ ist allerdings nicht so hoch, als dass er über Sieg oder Niederlage entscheiden würde. Das liegt allein in der Hand jeder oder jedes Einzelnen (nicht in der Würfel-, sondern in der Schreibhand). An diesem Punkt kann man sogar noch einen Schritt weiter gehen und Wolfgang Warschs Spiel auf einer Meta-Ebene philosophisch interpretieren. Für uns Menschen ist das Selbstbestimmungsrecht zentral, das Recht auf die freie Entfaltung unserer Persönlichkeit. Wenn wir nun einen Würfel werfen, verzichten wir einen Moment freiwillig auf die Wahrnehmung dieses Rechts. Gleichzeitig akzeptieren wir, dass der Zufall, symbolisiert durch den Würfel, unser Schicksal bestimmt. Im Spiel bewegen wir uns von der Welt, in der unser freier Wille regiert, in die Welt, in dem der Zufall herrscht. Gegensätzlicher könnten die beiden Bereiche nicht sein. „Ganz schön clever“ fügt nun ein weiteres Spannungsfeld hinzu: Aus dem Zufallsergebnis schaffen wir durch die Wertung auf dem Spielblatt bewusst wieder Ordnung. Nachdem wir beim Würfeln für einen kurzen Moment die Kontrolle über die Geschehnisse verloren haben, versuchen wir sie nun beim Ausfüllen der verschiedenen Felder zurückzugewinnen.

Ein äusserst spannender Prozess, dieses Wechselspiel zwischen Chaos (wie man das Zufällige auch bezeichnen könnte) auf der einen und Ordnung auf der anderen Seite. Man kann das zwar in allen Würfelspielen beobachten, bei denen die geworfenen Zahlen nach bestimmten Regeln und Mustern notiert werden, aber mir ist erst bei „Ganz schön clever“ richtig bewusst geworden, welche Tiefen da zum Vorschein kommen, wenn man sich intensiver damit auseinandersetzt.

Ganz schön clever: Taktisches Würfelspiel von Wolfgang Warsch für 1 bis 4 Spielerinnen und Spieler ab 10 Jahren. Schmidt Spiele (Vertrieb Schweiz: Carletto AG, Wädenswil), Fr. 14.50


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.

Zum Infosperber-Dossier:

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