Glosse
Der Spieler: Wie der Skiprofi vor dem Slalomstart
Das Ritual zum Beginn eines Kartenspiels dürfte hinlänglich bekannt sein. Für das Jassen, das viele als Schweizer Nationalspiel oder -sport bezeichnen, gibt es sogar Regeln: »Beim Verteilen werden die Karten stets von oben genommen. Werden pro Person 12 Karten verteilt, so sind jeweils 4 Karten auszuteilen und zwar so, dass der Spieler rechts (Vorhand) die ersten und er selber die letzten 4 erhält. Es können auch 4 mal 3 ausgeteilt werden. Bei 10 Karten erhält jeder 2 mal 5, bei 9 dreimal 3, bei 8 zweimal 4, bei 7 einmal 4 und einmal 3. In jedem Umgang muss jeder Spieler gleichviele Karten erhalten, sonst gilt das Spiel als vergeben und muss neu verteilt werden.«
Karten werden in den meisten Spielen nach dem Zufallsprinzip verteilt. Selbst wenn es heisst, dass dem Tüchtigen das Glück lache, hat niemand in der Runde sein Schicksal in der Hand. Man muss die Karten nehmen, die man bekommt. Fertig. Manchmal hat man vier Buben in der Hand, die einen 200er-Weis ermöglichen (sofern man ihn nicht übersieht), oder eine ununterbrochene Reihe vom As runter bis zur Acht, so dass man risikolos einen »Obenabe« ansagen kann. Aber wo bleibt da die Gerechtigkeit? Einer hat neun schlechte Karten, die einfach nicht zueinander passen, während bei einer Mitspielerin alles wunderbar aufgeht. Nein, das ist doch frustrierend, wenn der Zufall darüber entscheidet, wer mit einem Vorteil an den Start gehen kann (ich weiss, ich weiss, das ist gar nicht so schlimm, neues Spiel, neue Chance …).
Kartenkarussell zum Start
Man kann sich allerdings auch vorstellen, beim Jassen die Karten nach einem anderen Prinzip zu verteilen. Das ginge etwa so: Die Karten werden gemischt und an die Teilnehmenden ausgegeben. Nun schaut sich jeder Spieler die neun Karten an, die er bekommen hat, und wählt eine davon aus, die er bei sich behält. Den Rest seiner Karten gibt er verdeckt an seine rechte Nachbarin weiter. Dafür bekommt er von seinem linken Nachbarn dessen Kartenhand. Bevor er diese nach rechts weiterreicht, liest er daraus wiederum eine Karte aus und legt sie für sich ab. So geht das Karussell weiter, bis alle am Tisch wieder neun Karten in der Hand haben. Das sind die Karten, mit denen sie nun das Spiel bestreiten.
Bei diesem Verteilsystem kann niemand sagen (oder gar zu seiner Entschuldigung anführen, falls es schief laufen sollte), er hätte schlechte Karten bekommen. Was man in der Hand hält, hat man selber gewählt, man war nicht dem Schicksal ausgeliefert, sondern war sein eigener Herr und Meister.
Toll, das Selbstbestimmungsrecht, das auf diese Weise zum Zuge kommt. Allerdings stellt das Drafting, wie das hier vorgestellte Prinzip in der Fachsprache heisst, gewisse Ansprüche. Während man sich beim gewöhnlichen Ausspielen der Karten ein wenig zurücklehnen, einen Schluck Kaffee trinken oder mit der Nachbarin noch ein wenig schwatzen kann, erfordert das Drafting von Anfang an volle Konzentration. Was will ich in diesem Spiel? Mit welcher Strategie oder Taktik erreiche ich mein Ziel? Welches sind die möglichen Störfaktoren? Was haben die Mitspielenden vor? Entsprechend stelle ich meine Kartenhand zusammen, immer das ganze Spiel vor Augen – den Beginn, das Mittelspiel, das Finale, wie ein Skiprofi, der am Start zum Slalom den gesamten Parcours memoriert, bevor er losschiesst.
Glücksanteil nimmt ab
In der Entwicklung des Gesellschaftsspiels ist seit ein paar Jahren ein interessanter Trend festzustellen: Der Glücksanteil nimmt laufend ab. Entsprechend verwenden Autoren jene Mechanismen häufiger, die es den Spielenden erlauben, das Geschehen nach ihren Vorstellungen zu beeinflussen und zu steuern. Zu diesen Mechanismen zählt das Drafting, das den Zufall beim Verteilen der Karten praktisch ausschliesst. Überraschend ist es denn auch nicht, dass Spielinteressierte im aktuellen Angebot eine ganze Reihe von Titeln finden, bei denen die selbstbestimmte Kartenverteilung eine zentrale Rolle spielt.
Zum Einstieg in die Drafting-Welt eignet sich »Sushi Go!«. Wie im richtigen Leben beim Japaner, so hat man auch hier die Qual der Wahl. Allerdings blättert man nicht in einer 383 Nummern umfassenden Speisekarte, sondern wählt die Thun- oder Lachsfisch-Nigiri, Tempura, Sashimi und wie die Delikatessen alle heissen, aus einer überschaubareren Zahl von Karten aus. Man nimmt von seinen sieben Karten (bei fünf Spielern) eine und reicht die restlichen an seinen Nachbarn weiter. Dies geht so lange, bis alle Karten verteilt sind. Ziel ist es, möglichst reizvolle Kombinationen zu sammeln. So ergeben drei Sashimi-Karten zehn Siegpunkte, während zwei Tempura nur deren fünf einbringen. Also doch lieber auf die Muscheln los: Wenn es mir gelingt, fünf Stück zu erobern, so bekomme ich dafür 15 Punkte – eine gute Voraussetzung dafür, dass ich die Sushi-Runde als Gewinner verlasse. »Sushi Go« gefällt mir auch deshalb, weil Thema und Drafting-Mechanismus sehr gut zueinander passen.
Intensives Spielerlebnis
Ebenso transparent sind die Abläufe in »Tides of Time«, das das Drafting-Prinzip auch in Zweipersonen-Spielen hervorragend funktioniert. Die Zeiten ändern sich, und wir uns mit ihnen – das gilt auch für Zivilisationen, die im Verlauf der Geschichte Auf- und Abstiege erleben, bis hin zu ihrem Untergang. In »Tides of Time« ist jeder der beiden Spieler das Geschick einer Zivilisation verantwortlich. Was sich in der Realität oft über Jahrhunderte hinzieht, spielt sich hier innerhalb einer Viertelstunde ab, rasend schnell also. Dadurch beschert »Tides of Time« den Teilnehmenden ein sehr intensives Spielerlebnis. 16 Entscheidungen, und schon steht das Ergebnis fest – ein kleines und kurzes Spiel mit hohem Potenzial und einer Ästhetik, die in diesem Segment nicht alltäglich ist.
Wer hat als Kind nicht schon mal davon geträumt, Ritter zu werden und um die Hand der schönen Prinzessin anzuhalten? In diesem Fall ist »Die Holde Isolde« das richtige Spiel für Sie. Sechs Monate hat man Zeit, seine Fähigkeiten ins beste Licht zu rücken. Turnierkämpfe und Wettbewerbe im Lanzenstechen bieten dazu Gelegenheit, auch eine risikoreiche Suche nach dem Heiligen Gral. Der edle Ritter ist aber nicht nur ein dummer Schläger, sondern ist gebildet und kennt sich in den christlichen Tugenden aus. All das will geübt sein, sonst hat man bei Isolde keine Chance. Und das heisst für die Knappen, zu Beginn jeder Runde beim Draften darauf zu achten, an Karten zu kommen, von denen man sowohl kurz- als auch langfristig profitiert. Denn wieviele Punkte man in einer Disziplin gewinnen kann, hängt auch davon ab, zu welchem Zeitpunkt und nach welchem System sie gewertet wird. »Die Holde Isolde« ist ein vergnügliches Familienspiel, das genau auf die Ansprüche eines breiten Publikums zugeschnitten ist.
Neue Dimensionen im Kartenspiel
Ebenfalls im vergangenen Herbst ist das Spiel »Schatzjäger« auf den Markt gekommen, das – abgesehen vom Ziel des edlen Werbens und Suchens – Vieles mit der »Holden Isolde« gemeinsam hat. Wiederum geht es darum, sich beim Draften ein möglichst erfolgversprechendes Kartenset zusammenzustellen. Insgesamt ist »Schatzjäger« eine Spur komplexer und weniger geradlinig als »Isolde«, weil Aktionskarten immer wieder für Überraschungen sorgen. Autor von »Schatzjäger« ist Richard Garfield, der Vater des berühmten Sammelkartenspiels »Magic the Gathering«, mit dem er schon vor 20 Jahren gezeigt hat, welche neue Dimensionen das Kartenspiel durch ein selbstbestimmtes Zusammenstellen seiner Handkarten bekommen kann.
Für ein breites Publikum erschlossen hat das Drafting-System übrigens »7 Wonders«, das 2011 zum ersten Preisträger von »Kennerspiel des Jahres« gewählt wurde. Als »Kennerspiele« werden Titel bezeichnet, die sich an ein Publikum mit überdurchschnittlicher Spielerfahrung richten. Im Herbst 2015 ist eine Zweierversion erschienen, »7 Wonders Duel«. Wer erwartet, seine Handkarten analog dem grossen Vorbild auch hier draften zu können, wird enttäuscht. »7 Wonders Duel« verzichtet darauf. Es hat trotzdem spielerisches Potenzial. Hierzulande ist es gar so beliebt, dass ihm die Vereinigung schweizerischer Spieleclubs kürzlich den Swiss Gamers Award 2016 verliehen hat.
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Erwähnte Drafting-Spiele
Sushi Go!: Kartenspiel von Phil Walker-Harding für 3 bis 5 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Zoch Spiele. Fr. 14.90
Tides of Time: Kartenaufbauspiel von Kristian Čurla für 2 Spielerinnen und Spieler ab 8. Jahren. Verlag Pegasus. Fr. 13.-
Die Holde Isolde: Taktisches Familienspiel von Nicolas Poncin für 2 bis 5 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Schmidt Spiele. Fr. 26.90
Schatzjäger: Taktisches Familienspiel von Richard Garfield für 2 bis 6 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Queen Games, in der Schweiz nur schwer erhältlich, bei Amazon ca. 21 Euro
7 Wonders Duel: Taktisches Aufbauspiel von Antoine Bauza und Bruno Cathala für zwei Personen. Repos/Asmodée, Fr. 29.90
7 Wonders: Taktisches Aufbauspiel von Antoine Bauza für 2 bis 7 Spielerinnen und Spieler. Repos/Asmodée, Fr. 52.90
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».