aa.Spieler.Synes.2020

Synes Ernst: Der Spieler © zvg

Der Spieler: Warum bis 20 zählen kein Kinderspiel ist

Synes Ernst. Der Spieler /  Kommt das Zähl- und Sprechspiel «Biss 20» auf den Tisch gehen die Wogen hoch. Wer Fehler begeht, verliert Lebenspunkte.

Die Idee ist alt. Steinalt sogar.

Fräulein Gerodetti war in den 1950er-Jahren in der Dorfschule meine Primarlehrerin. Um uns im Rechenunterricht die Multiplikation einzutrichtern, etwa die Dreierreihe, hatte sie eine besondere Methode: Die ganze Klasse aufstehen, der Reihe nach ein Schüler nach dem andern laut Aufwärtszählen von 1 bis 30, doch statt die durch 3 teilbaren Zahlen auszusprechen, musste man klatschen. Also Eins, Zwei, Klatschen, Vier, Fünf, Klatschen, Sieben und so weiter. Wer mit den Zahlen jonglieren konnte, hatte Spass und freute sich, wenn die Lehrerin diese Drill-Übung ankündigte. Jene aber, die mit den Zahlen auf Kriegsfuss standen, hatten Stress und litten. 

Vermutlich hatte unsere Lehrerin die Idee zu diesem «Spiel» im Seminar mitbekommen. Dass sie sie in einem Wirtshaus aufgelesen hatte, wo Ähnliches auch gespielt wurde, wenn auch zu anderem Zweck, nehme ich angesichts ihres asketischen Lebenswandels nicht an. Fräulein Gerodetti besuchte weder Wirtshäuser noch trank sie. Und Spielen war vermutlich auch nicht ihr Ding. 

Altbekannte Idee 

An meine ehemalige Lehrerin und ihr Abzählspiel musste ich unweigerlich denken, als ich «Biss 20» zum ersten Mal spielte. Es stammt von Erfolgsautor Günter Burkhardt und seiner Tochter Lena. Sie greifen mit ihrem jüngsten Spiel eine altbekannte Idee auf, schaffen daraus aber etwas Besonderes, das sogar das Interesse der Jury «Spiel des Jahres»  geweckt hat. Sie setzte das kleine Spiel auf die aktuelle Empfehlungsliste. Damit stellt sich «Biss 20» in eine Reihe mit Jacques Zeimets tollen Ablege- und Sprechspielen «Die Fiesen 7» und «Dodelido», die 2016 bzw. 2017 in gleicher Weise ausgezeichnet worden sind. 

Die Grundidee von «Biss 20» ist, wie gesagt, alt, steinalt. Fehlerfrei  von eins bis zwanzig zählen. Fertig, das ist die Aufgabe. Ein Kinderspiel, möchte man meinen. Wer hat nicht schon ein kleines Kind erlebt, das mit Stolz berichtete, es könne schon bis 20 zählen? 

Wenn alles doch nur so einfach wäre! Denn Fledermaus «Fritz the Bat» lässt nicht locker und stellt uns haufenweise Aufgaben. 40 gibt es davon im Spiel, was für Abwechslung sorgt. Selbstverständlich kommen pro Durchgang nicht alle zum Zug. Auf der einfachsten Stufe sind es sechs, auf der höchsten 18. Nicht, dass die einzelnen Aufgaben schwierig sind. Schreien, mit den Händen klatschen, Grimassen schneiden, aufstehen, Kikeriki sagen, die Zunge rausstrecken, auf den Tisch klopfen, mit den Händen ein Merkel-Herz formen, eine Zahl singen – das und vieles andere mehr kann jede und jeder, ob alt oder jung. Die Schwierigkeit liegt anderswo: Wie erfülle ich diese Vorgaben zum richtigen Zeitpunkt?

Konzentration und gutes Gedächtnis

 Dieser wird nämlich auch vorgegeben: Nach jedem Zähldurchgang werden zwei Karten aufgedeckt, die bestimmen, was ich tun muss, statt eine betreffende Zahl zu sagen, reagieren. Statt der Zwei in die Hände klatschen, oder statt der Vierzehn eine Grimasse schneiden. Das Fiese an «Biss 20»: Nur die letzten Aufgabenkarten liegen offen auf dem Tisch. Alle vorher ins Spiel gebrachten Vorgaben gelten weiterhin.  

Zu bewältigen ist das alles nur mit höchster Konzentration, idealerweise in Verbindung mit einem guten Gedächtnis. Wie kann ich mir merken, wie ich bei welcher Zahl reagieren muss? Kinder können das spielend, während Erwachsene mehr Mühe bekunden.  Das ist bei Spielen, bei denen diese Fähigkeiten gefragt sind, nicht aussergewöhnlich. 

Der Stress ist programmiert. Denn wir müssen die vom Schwierigkeitsgrad abhängige Zahl von Aufgaben erfüllen, bevor wir unsere Lebenspunkte (= Edelsteine) aufgebraucht haben. Bei zwei bis drei Spielern sind dies 13, bei sieben und mehr Teilnehmenden 20. Der Vorrat ist knapp, denn jedesmal, wenn jemand über eine Vorgabe stolpert, kostet das einen Lebenspunkt. Und stolpern – oh, das passiert so schnell …

«Biss 20» lässt sich sowohl  kompetitiv als auch kooperativ spielen. Die Grundvariante ist kooperativ. Und das ist auch gut so. Bei Spielen dieser Art ist der emotionale Pegel von Anfang an hoch. Was wird da gelacht! Vor allem, wenn jemand nicht mehr weiter weiss, zögert, Aufgaben verwechselt, indem er dort eine Grimasse macht, wo er oder sie mit den Füssen auf den Boden hätte stampfen sollen. Sehr oft trifft es die gleichen Personen. Es kann durchaus vorkommen, dass diese mit der Zeit keine Lust mehr haben, weiterzuspielen, weil sie  sich ausgelacht fühlen. 

Hoher Aufforderungscharakter

Beim kooperativen Spiel gehen die möglichen Schwächen von Einzelnen unter, das kollektive Lachen wird weniger als Schadenfreude empfunden. Und witzig: Beim Spiel mit Enkeln habe ich schon oft erlebt, dass diese ihren ratlosen Grosseltern mit Gesten und Mimik helfen wollen, was von den Regeln her zwar nicht erlaubt ist, aber man kann ja nicht immer stur sein …

«Biss 20» ist ein Spiel mit hohem Aufforderungscharakter. Es reisst einfach mit, nicht zuletzt dank der wirklich einfachen Regeln. Weil der Schwierigkeitsgrad einfach angepasst werden kann, eignet es sich nicht nur sehr gut als Mehrgenerationenspiel, sondern auch für Runden, in denen Menschen mit viel und solche mit wenig Spielerfahrung sitzen. Spass ist in jedem Fall garantiert. Unter den aktuellen Neuerscheinungen gehört «Biss 20»  für mich unbedingt zu jenen, die nach der verordneten Ruhe der Pandemie-Zeit wieder Leben in die Bude bringen.

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Biss 20: Zähl- und Sprechspiel von Günter und Lena Burkhardt für zwei bis acht Spielerinnen und Spieler ab sieben Jahren. Verlag Drei Magier/Schmidt Spiele (Vertrieb Schweiz: Carletto AG, Wädenswil), Fr. 13.90


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker Synes Ernst war lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Spielen macht Spass. Und man lernt so vieles. Ohne Zwang. Einfach so.

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