Der Spieler: Von Zufall und Optimierung
Wie Sand am Meer gebe es Sprach- und Wortspiele, und immer noch würden neue Titel dazu kommen, habe ich vor zwei Wochen in meiner «Spieler»-Rubrik geschrieben. Es gibt allerdings eine Gattung, die momentan die Sprach- und Wortspiele um Längen schlägt, was die Reproduktionsziffer betrifft – die «Roll ’n› Write»-Spiele. Gemeint sind damit Spiele, bei denen die Teilnehmenden mehrere Würfel werfen und dann das Ergebnis nach bestimmten Regeln auf einem Block notieren.
Das Urspiel dieses Genres ist seit Jahrzehnten in praktisch jedem Haushalt vorhanden. Mit «Yatzee» oder «Kniffel» lernten Generationen von Heranwachsenden die Reize und Herausforderungen des Würfelspiels kennen. Die meisten Menschen, vermute ich, würden ein solches Spiel sogar auf die berühmte Insel mitnehmen … Warum diese Beliebtheit? «Yatzee» und «Kniffel» bieten einen schnellen Einstieg, sind unkompliziert, haben eine relativ kurze Spieldauer, bieten Nervenkitzel und Spannung, weil man nie weiss, wie die Würfel fallen, und bieten allen die gleichen Chancen, da niemand, egal ob Taktiker oder Zocker, Glück und Zufall beeinflussen kann.
Auswertung mit vielen Möglichkeiten
Von diesen Erfolgsfaktoren profitieren auch die neuen «Roll ’n› Write»-Spiele. Den aktuellen Boom ausgelöst hat «Qwixx», das es als erstes Spiel dieser Art 2013 auf die Liste der drei zum «Spiel des Jahres» nominierten Titel schaffte, eine bemerkenswerte Leistung für ein einfaches Würfelspiel. Das war nur möglich, weil «Qwixx» das «Yatzee»-Urprinzip um zwei spannende Elemente bereicherte: Erstens nutzen die Mitspieler die Würfelergebnisse gemeinsam, was zur Folge hat, dass immer alle irgendwie im Spiel involviert sind (keine Wartezeiten!). Und zweitens bietet der Auswertungsblock mehr Möglichkeiten, die Würfelergebnisse zu kombinieren und entsprechend zu notieren. Dadurch wird die Auswertung taktischer und anspruchsvoller zugleich.
Die von «Qwixx» angestossene Entwicklung ist so weit gediehen, dass die Würfelergebnisse längst nicht mehr nur in Form von Zahlen notiert werden. In «Blätterrauschen», das hier vorgestellt wird, ordnen wir nach den Würfelvorgaben Symbole und Gebiete so an, dass sie uns möglichst viele Punkte einbringen.
Wie ein Abreisskalender
Zwei Spezialwürfel nur – sie allein würden die Grösse der Verpackung von «Blätterrauschen» nicht rechtfertigen, befände sich nicht noch ein dicker Wertungsblock darin, der mich in Umfang und Gewicht an einen Calendaria-Abreisskalender erinnert. 200 Spielblätter enthält er, mit je 50 Blättern pro Jahreszeit. Die einzelnen Blätter sind eingeteilt in 100 kleine Quadrate, gefüllt mit bunten Symbolen wie Bäumen, Blumen, Vögeln, Blättern, Schmetterlingen. Dieses friedliche Bild, zum dem auch ein paar Regenbogen gehören, bleibt jedoch nicht lange unangetastet, weil die Wertung deutliche Spuren hinterlässt.
Und das geht so: Die beiden Würfel, deren Augen die Werte von 1 bis 4 (teils mehrfach) haben, werden geworfen. Alle Teilnehmenden zeichnen nun auf ihrem Blatt ein Rechteck, dessen Grösse von den gewürfelten Augenzahlen abhängt. Möglich sind Rechtecke von 1×1 bis maximal 4×4 Felder. Ist das Rechteck gezeichnet, so wählt man in diesem Gebiet ein Symbol aus (den Vogel beispielsweise) und kreuzt alle Felder in diesem Gebiet mit diesem Symbol an. Die Zahl der markierten Felder wird nun in die Wertung eingetragen. Im weiteren Spielverlauf müssen die neuen Gebiete senkrecht oder waagrecht an ein bereits vorhandenes Rechteck angrenzen.
Zu Beginn des Spiels hat man den Eindruck, dass einem fast unendlich viele Felder zur Auswahl stehen. Doch schnell stellt man fest, dass es auf dem Wertungsblatt immer enger und daher immer schwieriger wird, einen geeigneten Ort für ein Gebiet zu finden, dessen Grösse eben gewürfelt worden ist. Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, als zu passen, wofür man aber Strafpunkte kassiert. Das Spiel endet, wenn entweder alle ausgestiegen sind oder ein Gebiet nicht mehr eingezeichnet werden kann. Jetzt erfolgt die Schlusswertung, bei der ermittelt wird, wer die meisten Punkte gesammelt hat.
Kleeblätter bringen Punkte
Eine Siegstrategie gibt es in «Blätterrauschen» nicht, da die Würfel und somit der Zufall bestimmen, wo es lang geht. Für Spielerinnen und Spieler gilt einzig, das Beste aus dem zu machen, was die Würfel vorgeben. Und da ist man dem Schicksal nicht nur ausgeliefert. Denn die unterschiedlichen Symbole bringen unterschiedlich viele Punkte ein. Ein paar Beispiele: So gibt es pro Baum je einen Punkt, für zehn und mehr Bäume noch fünf Zusatzpunkte. Der Wert der Biene wiederum ist abhängig von der Zahl der Blumen, die man gesammelt hat. Wer zuerst alle vier Kleeblätter sammelt, bekommt 20 Punkte gutgeschrieben. Flussüberquerungen werden im Frühling bestraft, im Winter belohnt, im Herbst sind sie gar verboten. Es lohnt sich also, die Wertungstabelle beim Ausfüllen seines Notizblattes gut im Auge zu behalten. Anders lässt sich eine Optimierungsstrategie auch gar nicht umsetzen.
«Blätterrauschen» besticht durch seine gelungene Einbettung des «Roll ’n› Write»-Prinzips in das Thema von Landschaft, Natur und Jahreszeiten. Auf diese Weise vermag es viele Menschen anzusprechen, die von einem Spiel mit reiner Zahlenoptik eher die Hände lassen. Den «Normalspielern» kommt auch entgegen, dass die Symbole auf den Blättern vorgedruckt sind und nicht wie etwa in «Der Kartograph» selber gezeichnet werden müssen. «Blätterrauschen» wäre auch als generationenübergreifendes Spiel zu bezeichnen, wäre da nicht die Grösse der Schrift in der Spielanleitung bzw. bei den Symbolen in der Wertungstabelle – für ältere Menschen fast nur mit der Lupe lesbar. Schade für das schöne Spiel!
Wertungsblock als Schweizerkarte
Wenn die Lust auf «Roll ’n› Write»-Spiele schon geweckt ist, hier noch ein Beispiel aus der Schweiz. Aus der Schweiz in doppeltem Sinne: Zum einen hat es der Verlag Helvetiq auf den Markt gebracht, zum anderen ist der Wertungsblock als Schweizerkarte aufgemacht, mit drei Regionen sowie 25 Städten, die mit Linien verbunden sind. «Dice Trip» heisst es, es geht um Würfel und Reisen.
Wer an der Reihe ist, wirft vier Würfel. Jeder Spieler und jede Spielerin kombiniert nun die resultierenden Zahlen, um zwei zweistellige Zahlen zu bekommen. So ergeben 2 und 6 entweder 26 oder 62. Dabei darf jeder Würfel nur einmal benutzt werden. Seine beiden Zahlen schreibt nun jeder in zwei leere Städtefelder auf der Landkarte. Dafür gibt es jedesmal einen Punkt. Grundsätzlich muss man in einem Zug zwei Zahlen verwenden. Kann oder will man eine Zahl nicht aufschreiben, so muss man dafür ein leeres Stadtfeld durchkreuzen und kassiert dafür einen Minuspunkt.
Reise ist eine echte Herausforderung
So weit, so gut, so einfach. Wären da nicht ein paar «Feinheiten», die das Reisen durch die Schweiz zu einer echten Herausforderung machen. Jede Zahl, die man verwendet hat, wird auf dem Wertungsblatt abgestrichen. Für den weiteren Spielverlauf ist sie tabu. Das gilt auch für durchgekreuzte Stadtfelder. Da man für einen Sieg möglichst viele Punkte braucht, ist man dringend auf Zusatzpunkte angewiesen. Die scheffelt man mit Bonuspunkten für besonders markierte Städte sowie mit Zusatzpunkten für die längste Strasse (eine miteinander verbundene Abfolge an aufsteigend nummerierten Städten), für Reihen von fortlaufenden Zahlen oder für Regionen ohne durchgekreuzte Städte. Alle diese Möglichkeiten optimal zu nutzen, ist eine recht knifflige Angelegenheit.
«Dice Trip» und «Blätterrauschen» – zwei unterschiedliche Umsetzungen des gleichen Spielprinzips. Im Vergleich mit anderen Titeln aus der Gattung der «Roll ’n› Write»-Spiele sind beide von eher mittlerem Anspruch und eignen sich deshalb als Familienspiel. Beide fallen positiv auf durch ihre bewusste Gestaltung, bunt und warm bei «Blätterrauschen», technisch kühl bei «Dice Trip», beide passend zum Charakter des jeweiligen Spiels.
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Blätterrauschen. Jahreszeiten im Wald: Roll ’n› Write-Spiel von Paolo Mori für 2 bis 6 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Verlag Kosmos (Vertrieb Schweiz: Lemaco SA, Ecublens), Fr. 18.50
Dice Trip. Schweiz: Roll ’n› Write-Spiel von Hartmut Kommerell für 1 bis 4 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Verlag Helvetiq. Fr. 24.-
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker Synes Ernst war lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.