Der Spieler: Vom Schlafzimmer ins Museum
«Wow, so viele Spiele! Spielekritiker müsste man sein …» Dies habe ich immer wieder von Leuten zu hören bekommen, die staunend und neidisch zugleich die Unmengen von Schachteln betrachteten, die sich am Boden und auf Gestellen rund um meinen Schreibtisch auftürmten. In ihren Augen musste ich in paradiesischen Zuständen leben – ewige Weihnachten, von denen sie nur träumen konnten.
Wenn es denn nur so gewesen wäre! Es ist zwar so, dass wir Kritikerinnen und -kritiker auch leidenschaftliche Spieler sind und wir immer wieder auch Lust haben, uns mit Familie und Freunden zu Spielrunden treffen, ohne dass wir gleich eine Rezension über die gespielten Titel schreiben müssen. Dass wir zu diesem Zweck auf einen schier unerschöpflichen Fundus an tollen Spielen zurückgreifen können, hat tatsächlich etwas Paradiesisches an sich. Wir sind Privilegierte. Deshalb kann ich sehr wohl nachvollziehen, wenn unser «Reichtum» bei anderen Menschen, die ebenso spielbegeistert sind wie wir, für ihr Hobby aber viel Geld ausgeben müssen, gewisse Neidgefühle auslöst.
Zu einem Sorgenkind geworden
Die stetig wachsende Sammlung, auf die ich immer ein wenig stolz war, entwickelte sich im Laufe der Zeit jedoch auch zu einem Sorgenkind: Wohin mit den Hunderten und Aberhunderten von Spielen? 1980, als ich begonnen habe, regelmässig über Spiele zu schreiben, hatten die Neuheiten noch auf einem Wandregal in unserem Schlafzimmer Platz. Nachdem ich mit meiner Familie im Frühjahr 1984 aus beruflichen Gründen von Zürich nach Ostermundigen umgezogen war, mietete ich zusätzlich zur Wohnung einen etwa zehn Quadratmeter umfassenden Raum als Lager für meine Spiele.
Ich schreibe bewusst «meine» Spiele. Denn ich betrachtete meine Sammlung als «mein» Reich, das ich vor anderen abschirmte. Ich nahm zwar eigene Spiele zu den von mir organisierten öffentlichen Veranstaltungen in der Ludothek Ostermundigen mit, lieh sonst aber praktisch nichts aus. Und es war eher selten, dass sich meine beiden Kinder in meiner Sammlung bedienen durften, wenn es darum ging, sich für Skilager oder Geburtstagsfeste spielerisch zu munitionieren. Weshalb diese Abschottung? Ich kann das im Nachhinein nicht mehr genau begründen. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich nicht unbedingt der Verleih-und-Teile-Typ bin oder dass ich meine Sammlung möglichst vollständig und möglichst lange zusammenhalten wollte. Teilen und Sammeln, das ist wie Feuer und Wasser, geht nicht. Fragen Sie einmal jemanden, der im Keller eine Modelleisenbahnanlage aufgebaut hat!
Die Platzfrage beschäftigt alle
Ob sich meine Kritikerkolleginnen und -kollegen auch so verhalten, weiss ich nicht. Was ich jedoch weiss: Die Platzfrage beschäftigt alle, die ich kenne. Bei mir ging das so weiter, dass ich im Frühjahr 1992 in Liebefeld – einem anderen Vorort der Stadt Bern – einen Lagerraum mietete, der mit seinen 30 Quadratmetern dreimal mehr Platz bot, als ich bis anhin zur Verfügung hatte, und mir schienen, als ich den Mietvertrag unterschrieb, meine Platzprobleme für lange gelöst. Denkste! Dass meine Spiele, in grosse Umzugskartons verpackt, nun etwa eine halbe ÖV-Stunde von meinem Zuhause entfernt waren, hatte zwar den Vorteil, dass ich nicht täglich mit der Tatsache konfrontiert war, dass dieser neue Raum doch nicht unendlich war. «Aus den Augen, aus dem Sinn!» wird dieses Phänomen des Verdrängens und Vergessens elegant umschrieben.
Ich bewirtschaftete meine Sammlung im Unterschied zu anderen nicht. Ich verzichtete darauf, Listen mit Angaben zu den gelagerten Spielen zu führen. Erstens fehlte mir neben meinem Beruf und anderen Tätigkeiten schlicht die Zeit dafür, und zweitens wusste ich, dass ich, falls dies einmal erforderlich würde, auf vorhandene Datenbanken zugreifen konnte. Heute muss ich sagen, dass dies eine fatale Nachlässigkeit war. Denn archivarische Disziplin hätte vermutlich zu einem kontrollierteren Wachstum geführt. Das Wachstum an sich hätte ich damit jedoch nicht verhindern können, weil mir die Paketpost Jahr für Jahr Dutzende von Kartons mit Neuheiten ins Haus brachte.
Auf Fragen, was ich denn in Zukunft mit allen diesen Spielen machen würde, reagierte ich eher unwirsch und abweisend. Wenn ich einmal pensioniert wäre, hätte ich Zeit und würde mich dann darum kümmern, lautete meine Standardantwort. Als 2012 dieser Zeitpunkt gekommen war, hatte ich einen neuen Grund, nichts zu unternehmen: Ich war Gemeinderat und übte damit ein politisches Amt aus, das mich bis Ende 2016 zeitlich stark beanspruchte. Folglich war wieder nichts mit Aufräumen, was vor allem meine Frau und meine Familie zunehmend beunruhigte. Ihre wiederholten Angebote, mich zu unterstützen, empfand ich eher als unerwünschte Einmischung in meine persönlichen Angelegenheiten.
Grosser Leidensdruck
Dem unhaltbaren Zustand musste ich selber ein Ende setzen. Äusserer und innerer (Leidens-)Druck waren mittlerweile so gross geworden, dass ich mir sagte: «Innert zwei Jahren finde ich eine Lösung.» Dazu würde ich sogar bereit sein, mich von meinen geliebten Spielen zu trennen. Diesen Entschluss eröffnete ich meiner Familie im November 2017 im Rahmen einer Familienkonferenz. Zu dieser hatten meine Frau und ich unsere Kinder eingeladen, um miteinander unsere Vorstellungen zu unserer Altersvorsorge zu besprechen. Wer würde einmal die Verantwortung für meine Spielesammlung übernehmen? Das war eine der zentralen Fragen, die es zu regeln galt. Als ich meinen Entschluss eröffnet hatte, spürte ich zum einen Erleichterung, zum anderen aber auch Verwunderung: «Was, kannst du jetzt plötzlich loslassen, nachdem du uns alle jahrelang von deiner Sammlung ferngehalten hast?»
Nun, die Formulierung eines Entschlusses ist eine Sache, seine Umsetzung eine andere, viel schwierigere. Vor allem wusste ich aufgrund von Erfahrungen einiger Kritikerkollegen, dass die Welt nicht nach solchen Sammlungen schreit, selbst wenn sie akribisch geordnet sind. Ein Verkauf der Sammlung als Ganzes oder von Einzeltiteln, zum Beispiel über Webdienste wie Ebay oder Ricardo, kam für mich nicht Frage, da es meines Erachtens nicht anging, mit Spielen, die ich von den Verlagen zur Besprechung kostenlos bekommen hatte, Geld zu machen. Ganz abgesehen davon, dass ein solcher Verkauf zeitlich und administrativ enorm aufwändig und deshalb kaum zu bewältigen gewesen wäre. Eine andere, absolut radikale, Lösung war für mich indiskutabel: Entsorgung in der kommunalen Abfallverbrennungsanlage. Für einen solchen Frevel hätte man mich wohl gelyncht.
Der Allgemeinheit zugänglich
Mit der Zeit kristallisierte sich in meinem Kopf eine Lösung heraus, bei der die Spiele in Form einer Schenkung der Allgemeinheit zugänglich gemacht würden. Dass sie bloss von einem Lagerraum in einen anderen geschafft werden sollten, schien mir wenig sinnvoll. Für meine Lösung benötigte ich jedoch Institutionen, die bereits zum Thema Spiel öffentlich unterwegs waren, als Partner. Meine Wunschadresse war von Anfang an das Schweizerische Spielmuseum in La Tour-de-Peilz in der Nähe von Vevey. In einem ersten Gespräch im Herbst 2018 zeigte sich Direktor Ulrich Schädler jedoch zurückhaltend. Das Museum verfüge schlicht nicht über die Ressourcen, die es brauche, um die Sammlung als Neuheiten-Archiv auf dem aktuellen Stand zu halten und für die Öffentlichkeit zu nutzen, war seine Begründung. Doch das war nicht das Ende, zum Glück!
Noch vor Weihnachten vergangenen Jahres sagte mir Schädler, meine Sammlung sei in La Tour-de-Peilz willkommen. Einen Teil (Raritäten und Besonderheiten) würde er in den Bestand des Museums übernehmen und damit vorhandene Lücken füllen. Für den wohl grösseren Teil sehe er einen Verkaufsevent für ein breites Publikum vor. Der Erlös würde dem Zukunftsprojekt zugute kommen, dessen Realisierung in den Jahren 2020 bis 2025 geplant ist und in dessen Rahmen das Spielmuseum eine völlig neue Szenographie erhalten wird. Als ich das hörte, zögerte ich keine Sekunde: Das war sie, die optimale Lösung für mein Problem, das mir zunehmend schlaflose Nächte bereitet hatte. Wie war ich erleichtert! Die Formalitäten waren schnell geregelt, der Auftrag für den Umzug erteilt und das Umzugsdatum festgelegt. Und so transportierte am vergangenen Montag, 29. April, ein Camion meine Sammlung von der Hessstrasse in Liebefeld an den Genfersee, insgesamt 4,5 Tonnen Material, wie der Chef der vier Mann starken Zügelequipe staunend feststellte.
Ende eines Lebensabschnitts
In den Wochen zuvor war Putzen, Sortieren und Packen angesagt gewesen. Ohne die Mithilfe meiner Frau und meiner Tochter hätte ich es allein nicht geschafft. Da ich mich innerlich schon von meiner Sammlung verabschiedet hatte, hatte ich keine Mühe mehr, ihre Unterstützung zu akzeptieren. Im Gegenteil: Ich war froh darum. Und mit Freude beobachtete ich meine sechs Grosskinder, wie sie aus den Stapeln nach Herzenslust für sich Spiele aussuchen durften. Emotionslos verlief das Ganze jedoch nicht: Denn viele der Spiele, die ich in dieser Umzugszeit in die Hände genommen habe, weckten Erinnerungen, Geschichten kamen mir wieder in den Sinn, Gesichter von Menschen, die ich über das Spielen kennen gelernt hatte.
Mit der Unterzeichnung des Schenkungsvertrags endet für mich ein wichtiger Lebensabschnitt. Das Spielerleben geht jedoch weiter. Bereits sind wieder Pakete mit Frühjahrsneuheiten eingetroffen. Die Spiele werden sicher nicht mehr in einer toten Sammlung landen. Erstens verzichte ich gerne auf den Stress der vergangenen Jahre, und zweitens stellt der scheinbar unendlich grosse Lagerraum in Liebefeld keine Versuchung mehr dar. Ich habe ihn bereits gekündigt und die Schlüssel abgegeben.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.