Der Spieler: Viel Frust und Ärger in der Stadt der Liebe
Beginnen wir unser Spielejahr 2021 mit dem Blick auf eine Stadt, die normalerweise für Abertausende von Menschen das Wunschziel ist, um den Jahreswechsel zu feiern: Paris. Doch die Zeiten sind nicht normal, und so mussten auch diese Pläne wie viele andere begraben werden. Holen wir uns doch als Alternative ein schönes Paris-Erlebnis auf den Spieltisch.
Mit dem Zweierspiel «Paris – Die Stadt der Lichter» ist das sehr wohl möglich. Denn Verlag und Redaktion haben sich enorm darum bemüht, mit entsprechender Ausstattung die Mitspielenden in das Paris von 1889 zu versetzen. Paris 1889, das sind die Weltausstellung, der Eiffelturm, aber auch die Umstellung auf elektrische Strassenbeleuchtung, um die es in diesem Spiel geht. Und das ist auch Henri de Toulouse-Lautrec, an dessen Stil die Illustration auf dem Cover sowie die als Postkarten gestalteten Sonderkarten erinnern (sollen).
Nur zwei Phasen
«Paris – Die Stadt der Lichter» kommt ohne grossen Spielplan aus. Gespielt wird auf einem Einsatz in der Schachtel. Die als «Supplément litteraire illustré» zur Sonntagsausgabe des «Petit Parisien» vom 29. September 1889 aufgemachte Spielanleitung ist kurz und knapp, was auf einen minimalen Regelbestand schliessen lässt. Der erste Eindruck täuscht nicht: Nach höchstens zehn Minuten hat man den Spielablauf begriffen, was auch wesentlich darauf zurückzuführen ist, dass das Spielgeschehen klar strukturiert ist. Zwei Phasen mit je zwei Handlungsoptionen, c’est tout!
Phase eins ist die Planungsphase. Auf dem Raster des Spielplans legen die beiden Spielerinnen oder Spieler abwechselnd je eines der insgesamt 16 Strassenplättchen. Stattdessen können sie auch aus der gemeinsamen Auslage ein Gebäudeplättchen nehmen, das sie allerdings erst in der zweiten Phase, der Bau- oder Legephase, nutzen dürfen. Alles klar? Ja. Aber aufgepasst: Hinter diesem einfachen Beschrieb verbirgt sich ein höchst komplexer Prozess, den man erst nach mehreren Runden zu durchschauen beginnt. Ob man ihn je in den Griff bekommt, wage ich zu bezweifeln. Doch dazu später.
Fehler rächen sich sofort
Den ersten Teil als Aufwärmphase zu betrachten, könnte sich bitter rächen. Fehler, die man hier macht, können später nicht oder kaum mehr ausgebügelt werden. «Paris – Die Stadt der Lichter» fordert von den Spielenden deshalb von Anfang an volle Präsenz. Wo lege ich meine Strassenkärtchen ab, mit denen die Felder definiert werden, auf denen ich später meine Gebäude, markiert durch kleine Holzkamine meiner Farbe, bauen werde? Beim Setzen dieser Gebäude muss ich nämlich darauf achten, dass sie nur auf der eigenen Strassen-Farbe bzw. auf der neutralen Farbe platziert werden dürfen. Mit zunehmender Spielerfahrung bekommt man ein immer besseres Gespür dafür, wie man die Strassenlaternen am besten ins Stadtgebiet setzt. Denn für meine Gebäude bekomme ich nur Wertungspunkte, wenn Licht auf ihre Fassade fällt. Je mehr Strassenlaternen ein Gebäude anstrahlen, desto wertvoller ist es. Und weil wir uns in diesem Spiel im Immobilienbereich bewegen, gilt auch hier die Regel: Je grösser der Gebäudekomplex, desto höher der Ertrag.
Das alles gilt es bei unserer Stadtplanung zu berücksichtigen. Ob aller Überlegungen sollten wir allerdings nicht den richtigen Zeitpunkt verpassen, um uns die Gebäude zu sichern, die wir für die Realisierung unserer Pläne benötigen. Rasches Zugreifen empfiehlt sich, weil wir sonst Gefahr laufen, dass uns die Mitspielerin oder der Mitspieler Gebäude, die uns garantiert viele Punkte gebracht hätten, vor der Nase wegschnappt. Spannung, Bangen und Hoffnung prägen denn auch die Stimmungslage in dieser Planungsphase. Aber es sind genau diese Dilemma-Situationen (Baufelder legen oder Gebäude sichern?), die den Reiz dieser ersten Spielphase ausmachen.
Sehr intensives Spiel
In dieser Phase 1 besteht noch ordentlich Spielraum, um auf die gegnerischen Aktionen zu reagieren. Die Taktik der veränderten Situation anzupassen, verlangt von den Spielenden allerdings viel Flexibilität. Im Unterschied dazu fühlt man sich in der Phase 2, der Bauphase, eher eingeengt. Denn die Felder, auf denen ich bauen könnte, sowie die Anzahl meiner Gebäude sind jetzt vorgegeben, daran lässt sich nichts mehr ändern. Jetzt zeigt sich, ob die Planung aus der ersten Phase auch aufgeht. Korrektur- oder Einflussmöglichkeiten bieten die Postkarten, welche bestimmte Sonderaktionen erlauben, zum Beispiel mit der Karte «Lévitation» ein eigenes Gebäudeplättchen, das mir gerade nicht passt, durch eines aus dem Vorrat zu ersetzen oder mit der Karte «Lampadaire» eine zusätzliche Strassenlaterne zu bekommen. Begehrt sind vor allem die Karten «Moulin Rouge», «Le Penseur», «Fontaine des Mers» und «Le Peintre», die einem bei geschicktem Einsatz Zusatzpunkte einbringen, die über Sieg oder Niederlage entscheiden können.
«Paris – Die Stadt der Lichter» ist ein sehr intensives Spiel mit hoher Interaktion. Planloses Vor-sich-Hinspielen geht nicht. Denn fast jede Aktion des Gegenübers hat das Potenzial, meine Pläne zu durchkreuzen. Darauf muss ich reagieren, wenn ich nicht von Anfang an auf verlorenem Posten stehen will. Geschenke darf man einander in diesem Spiel nicht machen, da man für jeden Fehler, sei er noch so klein, bestraft wird.
Verführung zu destruktivem Spiel
Das direkte Gegeneinander, das für «Paris – Die Stadt der Lichter» typisch ist, kann zu destruktivem Spielen verführen, das vor allem darauf abzielt, die gegnerischen Aktionen zu stören. Frust und Ärger sind in diesem Fall garantiert, ausgerechnet in einem Spiel, das einen Ort feiert, der weithin auch als «Stadt der Liebe» gilt …
Nun noch zu den weiter oben geäusserten Zweifeln, ob man den einfach zu beschreibenden Prozess, der sich in «Paris – Die Stadt der Lichter» verberge, überhaupt je in den Griff bekommen könne. Denn ich vermute (beweisen kann ich es nicht), dass die unzähligen taktischen Möglichkeiten, die sich aus der engen Verzahnung der beiden Spielphasen ergeben, das Spiel letztlich unberechenbar machen.
«Paris – Die Stadt der Lichter» lebt für mich nicht von langsamem Spielaufbau mit ebenso langsamer Entwicklung der Konfrontation, die Liebhaber von Strategie und Taktik zum Schwärmen bringen, sondern von der Intensität der direkten Auseinandersetzung und der Interaktion zwischen den beiden Gegenüber. Wer das mag, kommt mit «Paris – Die Stadt der Lichter» voll auf seine Rechnung.
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Paris – Die Stadt der Lichter: Taktisches Legespiel von José Antonio Abascal für zwei Personen ab 10 Jahren. Verlag Kosmos (Vertrieb Schweiz: Lemaco SA, Ecublens), ca. Fr. 20.-
Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors
Spielekritiker Synes Ernst war lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.