Glosse
Der Spieler: Überraschungen am Spieltisch
Wir Menschen sind doch eigenartige Wesen. Dauernd stellen wir Vergleiche an, nehmen an Wettbewerben teil, publizieren Ranglisten. So kommt Ordnung ins Chaos. Und wenn die Welt geordnet ist, haben wir sie im Griff, so die gängige Meinung. Denn schon der Gott der Schöpfung konnte sich erst zufrieden zurücklehnen, nachdem er gesehen hatte, «dass alles gut», das heisst geordnet war.
Es gibt Spiele, die auf dem Prinzip des Ordnungschaffens basieren. Das wohl bekannteste stammt es der Ideenküche des Berners Urs Hostettler und heisst «Anno Domini». Das Grundspiel ist 1998 auf dem Markt erschienen. Bei diesem witzigen Karten- und Bluffspiel geht es darum, Ereignisse in ihrer geschichtlichen Reihenfolge zu platzieren. Die Ereignisse stammen aus den verschiedensten Bereichen und unterschiedlichsten Themengebieten wie Life Style, Schweiz, Seefahrer und Flieger, Kunst, Kirche und Staat, Sex and Crime, Fussball, Gesundheit und Ernährung.
Wie schwer ist US-Präsident Obama?
An «Anno Domini», das ich immer wieder und sehr gerne spiele, fühlte ich mich erinnert, als ich vor kurzem «Sauschwer» von Andrea Meyer und Martin Schlegel kennenlernte. Auch hier schaffen die Spielerinnen und Spieler Ordnung. Und zwar wird nicht nach der Chronologie geordnet, sondern nach dem Gewicht. Was ist schwerer? 1000 Eishockeypucks, die den Anforderungen der International Icehockey Federation entsprechen, oder das Gewicht, das Jang Mi-ran aus Südkorea bei ihrem Weltrekord im Gewichtheben der Frauen 2009 stiess? Die Kraftsportlerin brachte es auf 187, während die 1000 Pucks nur 163 Kilogramm wiegen. Hätten Sie es gewusst? Und raten Sie noch einmal: Ist US-Präsident Barack Obama schwerer als ein Rad am Hauptfahrwerk eines Airbus A 310? Richtig, und zwar 9 Kilogramm. Obama wiegt 80 Kilogramm, das Rad deren 71. Würde man nun Cesca, den Bürostuhl des «Spiegel»-Gründers Rudolf Augstein, zum Rad auf die Waage legen, wohin würde jetzt der Zeiger ausschlagen? Das Ergebnis: Er bliebe immer noch auf der Obama-Seite, da der Stuhl nur 6 Kilogramm wiegt.
Beim Spielen von «Sauschwer», das die ganze Schätzerei in ein witziges Wettspiel einbettet, habe ich eine überraschende Erfahrung gemacht: Die Einordnung nach Stunden, Tagen, Wochen und Jahren ist viel einfacher als jene nach Gramm und Kilogramm. Wir sind es gewohnt, die Frage nach dem Früher oder Später zu beantworten, während für die meisten von uns die Frage nach dem Gewicht nebensächlich ist, ausser man sei etwa Ingenieur und müsse statische Berechnungen machen. Mir gefällt es, wenn ein locker-einfaches Spiel wie «Sauschwer» mir die Augen für solche neue Erkenntnisse öffnet. Und das einfach so nebenbei.
Liebesbriefe für die Prinzessin
Eine Überraschung anderer Art erlebte ich mit «Love Letter» von Seiji Kanai, einem Kartenspiel, bei dem es darum geht, das Herz einer Prinzessin zu erobern. Die Mitspielenden schlüpfen in die Rolle eines Verehrers, der alles unternimmt, damit seine Liebesbriefe in die Gemächer der Prinzessin gelangen. Das geht nur über die verschiedenen Personen, die der Angebeteten mehr oder wenig nahe stehen. Eine wirre Geschichte, auf den ersten Blick, doch genial einfach zu spielen: Zu Beginn bekommt jeder Spieler eine Karte, auf der eine Person aus dem Umfeld der Prinzessin abgebildet ist. Das kann beispielsweise die Gräfin sein, der jüngere Bruder, der als Intrigant bekannte Baron oder der Priester, dem man seine Geheimnisse anvertraut. Wer an der Reihe ist, zieht eine weitere Personenkarte und spielt dann eine der beiden Karten aus. Die andere Karte behält man auf der Hand. Hat die ausgespielte Karte eine Funktion, so wird diese sofort ausgeführt. Wer den Priester ausspielt, kann die Handkarte eines Mitspielers anschauen. Spielt man die Wächterin, so darf man die Person auf der Handkarte eines beliebigen Mitspielers erraten. Ist der Tipp richtig, scheidet der betreffende Spieler aus. Der König tauscht die Handkarte mit einem Mitspieler, womit er sich zusätzliche Kenntnisse über die sich im Umlauf befindenden Personen verschafft. Mit der Zeit bleibt nur noch ein Verehrer übrig. Er bekommt als Belohnung – logisch – ein rotes Herz. Und schon geht es in die nächste Runde.
Was hier nach einer komplizierten Geschichte klingt, ist dank der geringen Zahl von Personenkarten, der Reduktion auf zwei Entscheidungsmöglichkeiten und der Tatsache, dass auf jeder Karte steht, welche Aktion sie auslöst, ein sehr einfaches Spiel. Das Überraschende daran: Obwohl der Materialaufwand und der Regelbestand minimal sind, liegt hier ein grosses Spiel vor. Gross in dem Sinne, dass die Interaktion unter den Mitspielenden ausserordentlich hoch und intensiv ist. In den ersten Runden bleibt das Geschehen meistens noch vordergründig. Doch je besser man «Love Letter» kennt, verlagert es sich immer mehr auch auf eine Meta-Ebene. Das Spiel besitzt so etwas Hintergründiges, das mich enorm fasziniert hat. Es sind die Mitspielenden, die das Spiel machen, nicht das Material. Vielleicht ist das gerade deswegen so, weil das Material so radikal reduziert ist.
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«Sauschwer»: Schätzspiel von Andrea Meyer & Martin Schlegel für 2 – 8 Spielerinnen und Spieler ab 10 Jahren. Zoch-Verlag, ca. Fr. 23.–
«Love Letter»: Bluff- und Deduktionsspiel von Seiji Kanai für 2 – 4 Spielerinnen und Spieler ab 10 Jahren. Pegasus Spiele, ca. Fr. 17.–
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».