Glosse
Der Spieler: Tamtam um die Wahlen in den Bundesrat
Die Schweiz ist im Spielfieber. Wie immer, wenn es darum geht, nach einem Rücktritt aus der Landesregierung die Nachfolge zu regeln oder am Ende einer vierjährigen Legislaturperiode den gesamten Bundesrat neu zu wählen, scheinen das politische Establishment und alle, die dazugehören möchten, den Sinn für die Realität zu verlieren. Sie spielen das Wahlspiel, das Bundesratswahlspiel, um präzis zu sein.
Kommt sie nun wieder und riskiert dabei gar die Abwahl? Oder tritt sie am 9. Dezember bei den Gesamterneuerungswahlen in den Bundesrat nicht mehr an und scheidet Ende dieses Jahres aus der Regierung aus? Seit den Parlamentswahlen von Mitte Oktober haben sich die Medien praktisch ausschliesslich mit der politischen Zukunft von Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf beschäftigt. Je länger diese schwieg und nachdachte, desto mehr jagten sich die Spekulationen. Sie geht, sie bleibt, eigentlich möchte sie schon, aber das Risiko ist gewaltig, nein, sie geht, und zwar im Interesse des Landes, hoffentlich, aber die Parteien der Mitte dürfen sie doch nicht fallen lassen …
Voll auf die Rechnung gekommen
Als Spieler bin ich in den vergangenen Wochen voll auf die Rechnung gekommen. Zumindest als Zuschauer (früher, als ich noch als Berichterstatter und Kommentator im Bundeshaus tätig war, hatte ich noch bei diesem Spekulationsmeccano mitgemacht, vermutlich ohne Wirkung, aber immerhin). Am Schluss habe ich wohl, wie viele meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Übersicht über all die Szenarien und Möglichkeiten verloren. Was ja auch egal war, weil heute schon wieder ins Reich der Phantasie geschickt wurde, was gestern noch als hundertprozentig gesicherte Tatsache präsentiert worden war.
Den Polit-Spielern und -Spekulanten hat Eveline Widmer-Schlumpf einen Strich durch die Rechnung gemacht. Denn mit ihrer Erklärung vom Mittwoch, sie werde nicht mehr zur Wiederwahl in die Landesregierung antreten, hat sie Tatsachen geschaffen. Mit der Tatsache, dass für Widmer-Schlumpf am 31. Dezember 2015 als Bundesrätin Schluss ist, lässt sich nicht mehr spielen. Ich kann mir vorstellen, dass jetzt einige sogar frustriert sind, dass sie rund um die Rücktrittsfrage nicht mehr spielen oder spekulieren können. Vielleicht gibt es gar solche, die in der Magistratin eine Spielverderberin sehen, weil sie sie mit ihrer Erklärung aus der Welt des Spiels und der Spekulation in die Realität zurückgeworfen hat.
Sorge um den Blutdruck
Wer nun meint oder hofft, es werde in Bundesbern endlich Ruhe einkehren, der muss noch lange warten. Zumindest bis am 9. Dezember, bis die Zusammensetzung des Bundesrats für die nächsten vier Jahre feststeht. Bis dahin ist die Arena frei für das eigentliche Bundesratswahlspiel 2015, zu dem die Widmer-Schlumpf-Episode nur das Vorspiel war. Die Proben für das Hauptspiel laufen zwar schon seit einigen Wochen. Obwohl es bis jetzt noch um gar nichts ging oder höchstens um erste Positionsbezüge, waren einzelne Akteure mit einem solchen Feuereifer dabei, dass man sich um ihren Blutdruck Sorgen machen musste.
Einige, wie der Walliser Regierungsrat Oskar Freysinger, kamen zu früh aus der Deckung. Wer «Eile mit Weile» spielt, weiss, dass man nur auf dem dunklen Bänklein in Sicherheit ist. SVP-Parteipräsident Toni Brunner weigert sich deshalb partout, heute schon vom grossen Spielmacher aus Herrliberg in die Rolle des Kronfavoriten gedrängt zu werden – er würde gnadenlos gejagt, wenn er sich jetzt schon aufs freie Feld bewegte. Er strebe das Bundesratsamt unter keinen Umständen an, beteuert Brunner zwar immer wieder, aber – könnte das nicht auch Teil des Spiels sein?
Im Trägerverein eines Jugendzentrums
Mein Bundesratskandidat ist übrigens Dr. Fritz Conrad. Was, Sie kennen ihn nicht? 51-jährig, von Beruf Anwalt. Was mir an ihm gefällt, ist sein Engagement für einen sachlichen Dialog. Wenn das kein Argument ist gegen den zunehmend aggressiveren Politstil, den Eveline Widmer-Schlumpf an ihrer Medienkonferenz am Mittwoch angeprangert hat! Dr. Conrad ist weiter im Trägerverein eines Jugendzentrums und kämpft vehement gegen das Waldsterben, was bei seinem Hobby Wandern ja nicht erstaunt.
Das also ist mein Kandidat für die Landesregierung. Dr. Fritz Conrad gibt es in Wirklichkeit nicht. Er ist vielmehr einer der 45 Politikerinnen und Politiker, die im «Wahlspiel» von Urs Hostettler und Joachim Rittmeyer zuerst um ein Mandat im Nationalrat und anschliessend einen Sitz im Bundesrat kämpfen. «Das Wahlspiel» stammt aus dem Jahr 1983 und ist heute noch auf dem Markt. In der aufmüpfigen Zeit nach den Jugendunruhen wollten die beiden Autoren kein Lernspiel für angehende Staatsbürgerinnen und Staatsbürger schaffen, sondern die schweizerische Demokratie aufs Korn nehmen und durch Überzeichnung gewisse Fragen aufwerfen. Was sind das für Menschen, die da für ein politisches Amt kandidieren? Beeinflussen externe Ereignisse den Ausgang von Wahlen? Wie beschafft man Mehrheiten? Etwa durch Stimmenkauf? Aber nicht doch in der Schweiz!
Groove der 1980er Jahre
«Das Wahlspiel» war in Studenten- und WG-Kreisen ein Klassiker, und wer heute unter Alt-68ern nach Lieblingsspielen fragt, bekommt immer wieder zur Antwort: «Das Wahlspiel». Der Groove der 1980er Jahre verleiht ihm einen besonderen Charme, der es für die Fans zu einem eigentlichen Kultspiel macht.
Bringen wir doch gerade in diesen hektischen Tagen wieder einmal «Das Wahlspiel» auf den Tisch! Und siehe da: Es macht mehr als 30 Jahre nach seinem Erscheinen sogar das Tamtam um die wirklichen Bundesratswahlen ein wenig erträglicher.
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Das Wahlspiel: Kommunikations- und Gesellschaftsspiel von Urs Hostettler und Joachim Rittmeyer für 3 bis 6 Spielerinnen und Spieler. Fata Morgana, Fr. 35.-
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».