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Synes Ernst: Spiel-Experte © cc

Der Spieler: Symbolwürfel fördern sprachliche Kreativität

Synes Ernst. Der Spieler /  Die Angst vor dem leeren Papier: Würfel mit Symbolen können solche Blockaden aufheben. So macht Schreiben Spass.

«Das kenne ich doch schon lange», war meine erste Reaktion, als ich die Verpackung von «Brändi Picto» öffnete und zwölf Holzwürfel vor mir auf dem Tisch lagen, jeder auf jeder Seite mit einem Symbol (Piktogramm) bedruckt. Und bekannt auch der Promotionsspruch auf der Schachtel: «Würfeln, erfinden, erzählen, zuhören.» Pascal von Ah bestätigt meinen Eindruck. Der Produktverantwortliche der Luzerner Sozialinstitution Brändi, die sich vor allem mit ihrem «Brändi Dog» einen Namen als Spieleherstellerin geschaffen hat, schreibt: «Die Idee ist nicht neu und es gibt schon einige Würfelspiele auf dem Markt». Brändi habe «eine Retro-Version mit entsprechenden Symbolen entwickeln und dabei nachhaltige Materialien verwenden» wollen.

Wenn eine Idee «nicht neu» ist, muss sie irgendwo ihren Ursprung haben. Vater dieser vielen Symbol- oder Bildwürfel, die es derzeit gibt, ist der 2016 verstorbene Sozialpädagoge und Spielautor Hajo Bücken. 1983 veröffentlichte er in seiner auf konkurrenzloses Spielen spezialisisierten Arbeitsstelle für Neues Spielen den «Mimürfel». Statt Zahlen zeigte dieser auf jeder Seite ein anderes Gesicht, einmal grimmig, dann lachend, traurig oder wütend. Bücken hatte diesen Würfel als animierendes Hilfsmittel entwickelt, um die Menschen zum Reden zu bringen und dadurch Hemmungen abzubauen und Mauern zu überwinden. Der Würfel war für Bücken eindeutig ein gesellschaftspolitisches Projekt, da er in der zunehmenden Sprachlosigkeit eine Gefahr für die gegenseitige Verständigung sah. Dieser Entwicklung wollte er mit spielerischen Mitteln begegnen, unter anderem mit dem «Mimürfel».

In Gruppen und Schulen

Bis heute wird der Würfel mit den sechs Gesichts-Piktogrammen in Gruppen und Schulen eingesetzt. Einmal geht es darum, mit den Würfeln zu zeigen, wie man auf eine bestimmte Situation reagiert, ein andermal, eine Frage zu beantworten oder ein Thema zu vertiefen. Immer aber wirkt der «Mimürfel» deblockierend. Er regt die Phantasie und die Kreativität an und fördert auf lockere Art die sprachliche Ausdrucksfähigkeit, sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen.

Als ich 2016 vom Amt als Sozialvorstand meiner Wohngemeinde zurücktrat, plante ich, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Sozialabteilung zum Abschied einen «Mimürfel» mitzugeben. Auf die Idee war ich gekommen, weil Kommunikation über Sprache bei der Ausübung ihrer Tätigkeit als Sozialarbeitende eine entscheidende Rolle spielt. Leider war der Würfel, als ich ihn besorgen wollte, nicht in genügender Zahl verfügbar, so dass ich auf eine Alternative ausweichen musste. Und diese war glücklicherweise in Form der «Story Cubes» vorhanden.

Einfaches Format

«Story Cubes» sind neun Würfel, deren sechs Seiten mit Piktogrammen bedruckt sind. Rein rechnerisch ergeben sich daraus über 10 000 000 Kombinationen – Ausgangspunkt für eine unüberschaubare Zahl von Erzählungen. Die Idee hinter «Story Cubes» könnte einfacher nicht sein: Man wirft die neun Würfel und entwickelt anhand der offen liegenden Symbole Geschichten. In der Grundform versucht man eine Story zu erzählen, in der alle gewürfelten Symbole verwendet werden. Eine andere Variante ist die Kettengeschichte, bei der man einen einzigen Würfel wirft und dann eine Geschichte so lange erzählt, bis man das gewürfelte Symbol eingebaut hat. Dann würfelt der nächste Spieler und setzt die begonnene Geschichte entsprechend fort, bis man schliesslich alle neun Würfel durch hat. Fortgeschrittene Erzähler gehen noch einen Schritt weiter, indem sie die Bilder auf den Würfeln nicht mehr im wörtlichen Sinne verwenden, sondern im übertragenen Sinn, die Uhr also nicht mehr als richtige Uhr, sondern als Symbol für Zeit.

Wie schon beim «Mimürfel» erlebt man auch hier bei «Story Cubes», wie das einfache Format – Bilder auf Würfeln – die Menschen, die sich damit beschäftigen, zum Erzählen einlädt, ob sie es nun wollen oder nicht. Das Ding hat einen unheimlich starken Aufforderungscharakter. Es ist wie beim klassischen Brainstorming: Die Bilder regen jene Zonen im Gehirn an, welche unsere Intutitionen, Kreativität, Phantasie und Gefühle steuern. Dieses bildliche Denken wiederum fördert unsere sprachliche Ausdrucksfähigkeit, wie es etwa Gabriele L. Riesco in ihrem Standardwerk «Garantiert Schreiben lernen» nachweist.

Weltweit ein Millionenerfolg

An den «Story Cubes» ist immer wieder faszinierend, wie spielerisch-leicht einem das Erzählen fällt. Und wie witzig das Ganze ist: Denn plötzlich wir einem bewusst, wie unterschiedlich die Geschichten sind, die in der Runde erzählt werden. Man staunt über die phantastischen Ideen, die Kinder haben können, oder entdeckt, wie humorvoll ein älterer Mann erzählen kann, den man sonst eher als verschlossenen Typ kennt. Die Würfel helfen uns, dass wir unserer Phantasie freien Lauf lassen können. Wenn man das miterlebt, staunt man nicht, dass die «Story Cubes» weltweit ein Millionenerfolg sind.

Als der Ire Rory O’Connor 2007 mit «Story Cubes» auf den Markt kam, versetzte dies die Schweizer Spieleautoren Andreas, Ueli und Lukas Frei in einen gehörigen Schrecken. Denn sie steckten mitten in der Produktions-Endphase eines Spiels, bei dem ebenfalls Symbolwürfel zum Geschichten-Erzählen anregen sollten. Um einem möglichen Plagiatsvorwurf zu begegnen, konnten sie nachweisen, dass sie «Icon Poet» bereits 2006 am Autorentreffen in Göttingen öfffentlich ausgestellt und verschiedenen Verlagen präsentiert hatten. Es dauerte dann noch bis 2011, bis das ambitiöse Würfelspiel endlich realisiert war, versehen mit dem nicht unbescheidenen Zusatz: «Alle Geschichten dieser Welt. Ein grosser Wurf der Gebrüder Frei.»

Am Anfang steht eine spannende Geschichte

Dass die Gebrüder Frei auf die Idee mit den Würfeln kamen, hängt mit ihrer Philosophie zusammen. «Am Anfang eines guten Spiels steht fast immer eine spannende Geschichte,» kann man auf ihrer Webseite lesen. «Seemannsgarn» hiess die ursprüngliche Fassung, entstanden auf einer Afrikareise Ende der 1990er Jahre. In der weiteren Entwicklung kam dann hinzu, was «Icon Poet» etwa von «Story Cube» oder, wie jetzt wieder, von «Brändi Picto» abhebt – statt des freien Erzählens ein Rahmen, der das Schreiben in bestimmte Bahnen lenkt. Zu diesem Rahmen gehört die Regel, dass die auf den Bildsymbolen basierende Geschichte innerhalb von drei Minuten (Achtung: Sanduhr läuft!) geschrieben werden muss. Vorgegeben ist auch eines von 14 im «Icon Poet»-Buch festgehaltenen Szenarien, wie etwa «Letzter Wille», «Heiratsantrag» oder «Wahrsager». Von den 32 Würfeln mit ingesamt 192 Icons werden jeweils vier oder fünf verwendet.

Die Herausforderung ist gewaltig: Legen Sie einmal innerhalb drei Minuten Ihrem Chef dar, weshalb Sie eine Lohnerhöhung verdient haben! Auf den fünf Würfeln sind ein Schlittschuh, ein Schädel, ein grosser Tropfen, ein Tresor und ein Thermometer abgebildet. Da kommen Sie ganz bös ins Schwitzen, vor allem wenn Sie sehen, wie Ihre Konkurrenten schon fleissig am Schreiben sind, während Sie noch am Hirnen sind und Ihnen partout nicht einfallen will, wie Sie die diese Icons miteinander zu einer Geschichte verbinden könnten. Ein Trost immerhin: Auch bei «Icon Poet» macht Übung den Meister. Vor allem fällt einem mit der Zeit der Schritt vom konkreten Bild zum versteckten Symbol immer leichter. «Thermometer» könnte in unserem Beispiel «Hitze» bedeuten, der «Schädel» vielleicht «Mord» oder «Tod».

Rahmen setzt Energien frei

Warum dieser Erzählrahmen? In unserem Gespräch im Alten Tramdepot beim Bärenpark in Bern, wo die Gebrüder Frei ihr Atelier haben, meint Lukas Frei, dass der Rahmen mit den Szenarien und dem Zeitdruck die Kreativität nicht einschränke. «Im Gegenteil, sie wird sogar noch gefördert, indem der Rahmen zum einen Energien freisetzt und zum anderen uns zwingt, uns voll und ganz auf den Kern der Geschichte zu konzentrieren,» sagt er. Beim freien Erzählen hingegen bestehe die Gefahr, dass man sich verzettele, auf Nebengeleise gerate, verunsichert werde und immer wieder der Versuchung erliege, einmal Geschriebenes zu korrigieren. So komme man kaum an ein Ende. Bei «Icon Poet» liege hingegen nach einer relativ kurzen Zeit ein Produkt vor, manchmal fertig, manchmal auch noch im Rohzustand. Lukas Frei: «Das hat seinen Reiz, vor allem wenn man seinen Text mit jenen der anderen vergleichen kann.»

Die damit verbundene Performance ist ein wichtiger Bestandteil des «Icon Poet»-Konzepts. An den öffentlichen Veranstaltungen haben schon bekannte Autorinnen und Autoren Würfel-Geschichten geschrieben, so Pedro Lenz, Charles Lewinsky, Hazel Brugger, Mike Müller, Patrick Frey und Victor Giacobbo. Auch Rapper, wie Knackeboul oder Nemo, sind mit von der Partie. Dass es ein Spiel, für welches man einen Hunderter auf den Tisch legen muss, diesen Weg geschafft hat, ist phänomenal. Und ebenso ausserordentlich ist, dass «Icon Poet» nicht als Kultspiel in diese Sphären entschwunden ist, sondern die Bodenhaftung nicht verloren hat: Dank des persönlichen Engagements der Gebrüder Frei hilft es in vielen Schulen Jugendlichen, ihre Sprach-, Erzähl- und Schreibkompetenz zu fördern. Lustvoll und sehr spielerisch, was ja als Potenzial in diesen Würfeln steckt.

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Icon Poet: Erzählspiel mit Symbolwürfeln. Von Andreas, Lukas und Ueli Frei. Für 1 bis … Spielerinnen und Spieler ab 10 Jahren. Verlag Hermann Schmidt, Mainz. Fr. 101.-

Story Cubes: Erzählspiel mit Symbolwürfeln von Rory O’Connor für 1 bis 10 Spielerinnen und Spieler ab 6 Jahren. Verlag Huch & Friends. (Vertrieb Schweiz: Carletto AG, Wädenswil), Fr. 18.90. Verschiedene Ausgaben und Erweiterungen.

Mimürfel: Erzählspiel mit Symbolwürfel von Hajo Bücken für 1 bis … Spielerinnen und Spieler ab 6 Jahren. Arbeitsstelle Neues Spielen. In der Schweiz nur schwer erhältlich.

Brändi Picto: Erzählspiel mit Würfeln für 1 bis … Spielerinnen und Spieler ab 4 Jahren. Stiftung Brändi. Fr. 32.90. Erhältlich im Brändi-Online-Shop oder bis Ende Oktober exlusiv bei Orell Füssli, anschliessend im Spielwaren- oder Buchhandel.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.

Zum Infosperber-Dossier:

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