Der Spieler: Suchtgefahr bei der Landvermessung
Noch verbieten uns die Anti-Corona-Massnahmen, uns zu grösseren Spielerunden zu treffen. Das ist für angefressene Spielerinnen und Spieler schrecklich, weil für sie etwas fehlt, was es im kleineren familiären Kreis nicht so gibt – den intensiven Austausch über die Partien, die man eben miteinander gespielt hat. Spiele-Blogger Nico Wagner spricht mir denn auch aus dem Herzen, wenn er seine Gefühle angesichts der abgewürgten Metadiskussionen in einer Liebeserklärung auf den Punkt bringt: «Hach Leute, ich vermisse Euch. Hoffentlich bis ganz bald.»
Ja, hoffentlich bis ganz bald. Bis dahin spielen wir notgedrungen in kleinster Runde weiter, wobei es das riesige Angebot an tollen Spielen auch für diesen Rahmen uns erleichtert, die Durststrecke der nächsten Wochen und Monate elegant zu überbrücken. «Der Kartograph», den ich im Folgenden vorstelle, ermöglicht mir das sogar, wenn ich allein bin und ich Lust auf eine anspruchsvolle spielerische Herausforderung habe.
«Roll ’n› Write»-Spiele erleben Boom
«Der Kartograph» gehört im weiteren Sinn zu den so genannten «Roll ’n› Write»-Spielen. Den eher bescheidenen Auftritt könnte man als gattungsimmanent bezeichnen, da diese Art von Spielen mit einem Minimum an Material auskommen. Würfel und ein Block, auf dem die Ergebnisse notiert werden, mehr braucht es nicht. Aber da sind doch gar keine Würfel, höre ich Einwände. Stimmt. Die Gattung der «Roll ’n› Write»-Spiele, deren bekanntester klassischer Vertreter wohl «Kniffel» (bei uns: «Yatzee») ist, erlebt nach dem 2013 zum «Spiel des Jahres» nominierten «Qwixx» einen ungeheuren Boom mit einer Vielzahl an neuen Titeln (so zum Beispiel «Dizzle», «Ganz schön clever», «Doppelt so clever»). Die Gattung scheint so beliebt zu sein, dass es mittlerweile auch «Roll ’n› Write»-Varianten von klassischen Brettspielen gibt, so «Copenhagen: Roll & Write». Die jüngste Entwicklung verzichtet zum Teil auf Würfel als Spielmotoren, sondern verwendet stattdessen Karten. Weil diese nicht geworfen werden, sondern gedreht, heisst dieser Spross logischerweise «Flip ’n› Write».
Im Unterschied zum nüchtern-abstrakten «Yatzee» & Co. ist «Der Kartograph» in eine Geschichte eingekleidet. Wir sind Landvermesser und haben von der Herrscherin von Nalos (fragen Sie mich bitte nicht, wo das liegt …) den Auftrag bekommen, die nördlichen Reiche zur kartieren, die urbar gemacht und in das Königreich integriert werden sollen. Das Land ist begehrt. Also beinhaltet der Auftrag auch, dass die Kartographen mit der Festlegung der Grenzen der Königin die wertvollsten Gebiete sichern.
111 kleine quadratische Felder
Ort des Geschehens ist die Landkarte, auf dem wir Vermesser mit Bleistift unsere Erkenntnisse eintragen. Dazu ist das auf Pergament gemachte Stück Papier in ingesamt 111 kleine quadratische Felder eingeteilt. Auf einzelnen sind zu Beginn ein paar Berge, Ruinen oder Ödnis-Felder eingezeichnet. Für den Rest sind wir Kartographen verantwortlich.
Unser Job ist sehr anspruchsvoll, da wir unseren Blick nach allen Seiten offen haben müssen, wenn wir unserer Königin eine Karte zurückbringen wollen, die ihre hohen Ansprüche erfüllt. Unsere Aufmerksamkeit gilt zuerst einmal den Erkundungskarten, die nach und nach aufgedeckt werden. Sie gibt an, was wir auf unserem Blatt einzeichnen müssen, welche Form und welche Geländeart. Die Formen sind aus Tetris bekannt, zu den Geländearten zählen Wald, Dorf, Acker, Wasser, Gebirge und Monster. Jede Erkundungskarte zeigt entweder eine Form und mehrere mögliche Geländearten oder eine Geländeart und zwei mögliche Formen. Wählen muss man immer eine Form bzw. eine Geländeart.
Wertungskarten sind zentral
Wie und wo markiere ich nun auf meiner Karte den Sumpf? Die Form ist mit einem Tetris-T vorgegeben, während ich bei der Geländeart noch zwischen Wald und Wasser wählen kann. Oder wo lasse ich den Hinterlandbach in L-Form fliessen? Mache ich dies abhängig davon, welche Geländeart ich ihm gebe, Wasser oder Acker? Echt knifflig, denn jetzt kommen die Wertungskarten ins Spiel, die meine Entscheidungen zentral beeinflussen. Denn jede Karte gibt an, wie viele Ruhmes-(=Sieges-)punkte ich in der Endabrechnung bekomme, wenn ich die darauf erwähnten Anforderungen erfülle. So kassiere ich beispielsweise acht Ruhmespunkte für jede «Bastion in der Wildnis», das heisst für jedes Dorfgebiet, das aus mindestens sechs entsprechenden Feldern besteht. Mit drei Ruhmespunkten werde ich – ein anderes Beispiel – für jedes Gebirgsfeld belohnt, das über ein Waldgebiet mit einem anderen Berg verbunden ist. Bereits diese beiden Beispiele sollten genügen, um zu zeigen, wie die Wertungen erfolgen.
Der vom «Isle of Skye» her bekannte Wertungsmechanismus ist äusserst raffiniert. Worauf es in den vier Rundenwertungen ankommt, ist nämlich von allem Anfang an bekannt. Gewertet wird viermal, im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter, wobei die Dauer der einzelnen Jahreszeiten von Spiel zu Spiel verschieden lang sein kann. Die Regeln, nach denen die Wertungen erfolgen, sehen vor, dass im Verlauf des Spiels jede der vier Wertungskarten zweimal zum Zuge kommt.
Rollende Planung
Für den erfolgreichen Kartographen ist vor diesem Hintergrund klar, wie er den Auftrag seiner Königin am besten erfüllt: Er agiert primär mit Blick auf die ausliegenden Wertungskarten und plant sein Vorgehen entsprechend voraus. Das ist allerdings nur bis zu einem bestimmten Grad möglich. Denn die Reihenfolge beim Aufdecken der Erkundungskarten lässt sich nicht beeinflussen. Als Spieler muss ich mit jenen Formen und Geländearten, die mir der Zufall beschert hat, das Beste auf dem Plan machen. Flexibilität ist gefordert, rollende Planung ein Muss. Dies auch deshalb, weil mit Ruinen und Hinterhalten zwei Elemente unter den Erkundungskarten auftauchen können, die meine Wahlfreiheit beim Zeichnen der Karte unter Umständen massiv einschränken.
Vor allem die Hinterhalte sind es, die uns Kartographen das Leben schwer machen. Wird eine der vier entsprechenden Erkundungskarten aufgedeckt, muss ich das Heft im wahrsten Sinne des Wortes aus der Hand geben. Denn in diesem Fall darf meine Mitspielerin zur Rechten oder zur Linken ein Gebiet in einer bestimmten Form auf meine Landkarte zeichnen. Da wir beide Konkurrenten sind, wird sie selbstverständlich versuchen, meine Pläne zu durchkreuzen und mir etwas auf meine Karte pflastern, das mir bei den anschliessenden Wertungen möglichst wenig oder gar Minuspunkte bringt.
Optimierung mit Tücken
Das ist gleichzeitig auch die einzige Interaktion in «Kartograph», der einzige Moment, in dem ein wenig Spannung und Emotionen aufkommen. Auch wenn man es in einer Gruppe spielen kann – die Anzahl Spielerinnen und Spieler geht von 1 bis 100, doch dies auch nur, weil in der Schachtel 100 Blatt Papier vorhanden sind –, ist es ein Solo-Spiel. Das heisst, ich konzentriere mich ausschliesslich auf meinen Plan und bin letztlich auch nicht gezwungen, im Auge zu behalten, was meine Mitspielenden tun und lassen. Sie können mir ja nicht dazwischen funken, ausser eine Hinterhaltskarte biete ihnen dazu die Möglichkeit. Im wirklichen Solo-Spiel übernimmt übrigens die aufgedeckte Hinterhaltskarte direkt die Rolle des «Spielverderbers».
Macht das Spass, so allein, gerade in dieser Corona-Zeit, wo uns allen das erzwungene Alleinsein langsam aber sicher zum Hals heraushängt? Ja. Ich habe den «Kartographen» in den vergangenen Wochen kennengelernt. Das Spiel hat mir auf Anhieb gefallen. Was wir vor uns haben, ist eine Optimierungsvorlage. Wie bei allen Spielen dieser Art habe ich auch hier nach dem Ende einer Partie das Gefühl, man könne es doch noch besser machen, noch mehr Punkte erzielen. Vielleicht durch eine Vergrösserung des Dorfes, dem ich allerdings ein Stück Wald opfere? Ob das eine gute Idee ist, lässt sich in der Theorie nicht klären, also starte ich zu einer neuen Runde. Doch das ist mit Tücken verbunden, denn die Reihenfolge der Erkundungskarten ist jetzt eine andere, und die Wertungskarten sind neu gemischt … Dann probiere ich es eben mit dieser neuen Ausgangslage und versuche, das Ergebnis der vorigen Partie zu verbessern. Die Stufe vom «Unbeholfenen Assistenten» (minus zehn Punkte) zum «Vermesserlehrling» (null Punkte) sollte doch zu schaffen sein. Wenn nicht dieses, dann das nächste Mal. Ich fürchte, «Der Kartograph» könnte süchtig machen.
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Der Kartograph: Flip ’n› Write-Spiel von Jordy Adan für 1 bis (theoretisch) 100 Spielerinnen und Spieler. Pegasus-Spiele. ca. Fr. 25.-
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.
Alles schön und gut, aber Kartographen und Vermesser sind zwei verschiedene Berufe wie Schreiner und Zimmermann und wenn man so einen Artikel schreibt, wäre es angebracht die unterschiedliche Tätigkeit/Aufgaben zu erläutern, der Eine nämlich macht Messungen und der Andere Karten, der eine liefert Grundstückflächen, der Andere schöne Atlanten, der Eine misst Längen, Breiten und Höhen, der bearbeit(ete früher einmal) Karton und Papier oder sogar Steinplatten, es sind nur Verwandte, aber keine Brüder, mein Lieber Artikelschreiber …