Der Spieler: Spielend zum Bundesratsamt
Waren das noch Zeiten! Von Otto Stich wusste man, dass er ein leidenschaftlicher Jasser war und sich auch noch als Bundesrat (1984 bis 1995) regelmässig mit Freunden zu abendlichen Spielrunden traf. Von den heutigen Mitgliedern der Landesregierung ist solches nicht bekannt. Ihre Agenden sind mit Terminen und Verpflichtungen so zugepflastert, dass für nutzlose Aktivitäten, wie Spielen eine ist, kein Platz mehr übrig bleibt. Und selbst wenn eine Bundesrätin oder ein Bundesrat Lust auf ein Brett- oder Kartenspiel hätte – ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Abwehrkette von Beraterstäben aus Angst vor möglichen Beschädigungen des Images es zuliesse, dass die Öffentlichkeit davon erführe. Eine Bundesrätin, die spielt? Wo bleibt da der Respekt vor dem Amt!
„Auf Herz und Nieren“
Von den aktuellen Bundesrätinnen und Bundesräten werden wir kaum je erfahren, ob sie spielen, und wenn ja, wie sie spielen. Konzentrieren wir uns also auf jene drei Kandidatinnen und jenen Kandidaten, die sich am kommenden 5. Dezember zur Wahl stellen. Von ihren Fraktionen sind sie, wie man sagt, „auf Herz und Nieren“ geprüft und für das Amt geeignet befunden worden. Hat man bei diesen Abklärungen mit ihnen auch gespielt? Wohl nicht.
Diese Frage kann man als lächerlich, anmassend und irrelevant abtun oder unter der Würde dessen empfinden, worum es hier geht. Ich bin anderer Meinung. Man hätte sich mit ihnen an einen Tisch setzen und mit ihnen spielen müssen, wie man dies mit allen Anwärtern auf wichtige Ämter und Funktionen tun müsste. Die Begründung liefert der griechische Philosoph Platon, der gesagt hat: „Beim Spielen kann man einen Menschen in einer Stunde besser kennenlernen als im Gespräch in einem Jahr.“ Mit anderen Worten: Spielend verraten wir, wer wir sind und wie wir sind. Im Spiel geben wir immer einen Teil unserer Persönlichkeit preis.
Die Spielweise verrät alles
Spielregeln sind wie eine Partitur. Wenn wir spielen, interpretieren wir sie und bringen damit die Welt des Spiels zum Leben. Wie wir sie interpretieren, hängt von uns selber ab, von unserer Persönlichkeit, von unserem Charakter, von der Stimmung, in der wir uns gerade befinden, und von den Mitspielenden. Wenn ich gut gelaunt bin, spiele ich anders, vermutlich grosszügiger, als wenn ich mich vorher gerärgert habe. In diesem Fall ist mein Verhalten eher aggressiv. Das verrät meine Spielweise. Sie verrät auch, wie ich mit Frustrationen umgehe. Bringen Sie einmal das klassische Ärgerspiel „Malefiz“ auf den Tisch, und schon nach wenigen Runden werden Sie bemerken, wie bei einigen Mitspielern die Emotionen steigen und einige innerlich zu kochen beginnen, während andere vollkommen gelassen bleiben.
Mit jedem Zug, den ein Mitspieler macht, verändert sich die Situation auf dem Feld. Eine blitzschnelle Analyse und dann ein rascher Entscheid, der nichts verbaut, sondern möglichst viele Optionen offenhält: Ist die Person, die sich um ein hohes Amt oder eine wichtige Funktion bewirbt, dazu in der Lage? Wie plant sie, wie geht sie umsichtig vor, gerät sie rasch unter Stress? Beim Spielen offenbart sich, ob wir initiativ sind, ob wir unternehmerisch und eigenverantwortlich handeln und Entscheide treffen, die lösungsorientiert und nachhaltig sind. Dabei gilt es auch zu berücksichtigen, dass die Exekutiven in der Schweiz Kollegialbehörden sind, was heisst, dass Entscheide in der Regel im Team getroffen und verantwortet werden. Erfolgreiche Regierungsmitglieder sind immer gute Teamplayerinnen und -player, weil sie die Fähigkeit haben, Allianzen zu schmieden und so für ihre Geschäfte Mehrheiten zu beschaffen.
An einem Management-Forum in Luzern hat die Thurgauer Regierungsrätin Monika Knill diese Woche auf die Bedeutung der Teamfähigkeit in der Regierungsarbeit hingewiesen und die Empathie der einzelnen Behördemitglieder als einen wichtigen Erfolgsfaktor für das Gremium als Ganzes bezeichnet. Nun aber ist das Spiel das Medium der Empathie, der Ort, an dem sich innert kürzester Zeit klärt, wie sich Menschen gegenüber anderen verhalten, ob sie sich in die anderen einfühlen und deren Verhalten antizipieren können. Bei einer Runde „Pandemie“, wo die Menschheit vor einem seuchenbedingten Untergang bewahrt werden muss, zeigt sich auch schnell, ob jemand ein echter Teamleader ist, der seine Leute gemäss deren spezifischen Kompetenzen agieren lässt, oder ob er gleich selber für alle Entscheidungen trifft und so seinTeam zu Erfüllungsgehilfen degradiert. Wie will man solche Eigenschaften in einem Hearing mit Fragen und Antworten herausfinden, und dauere dieses noch so lang?
Eine Zumutung, gerade in dieser Situation
Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass sich Kandidatinnen und Kandidaten darüber wundern würden, dass sie zum Spielen eingeladen werden. Viele, ich meine sogar, die Mehrheit, würden es als Zumutung empfinden, weil Spielen in ihren Augen zu wenig ernsthaft ist, gerade in dieser Situation. Möglicherweise käme es deswegen gar zu Spielverweigerungen. Ich fände das sehr sehr bedauerlich, muss gerechtigkeitshalber aber auch beifügen, dass eine solche Haltung nicht unbedingt nur persönlich bedingt ist. Sie könnte nämlich auch auf den geringen Stellenwert hinweisen, den das Spiel in unserer Gesellschaft immer noch hat. Spielen – das ist Kinderkram, Unterhaltung, unnütze Zeitverschwendung.
Schade, ist es so. Und ich kann nur hoffen, dass irgendeinmal der Zeitpunkt kommt, wo Anwärter auf höchste Ämter und Funktionen, die sagen, sie würden nicht spielen, ebenso als Banausen hingestellt werden, wie jene, die keine Bücher lesen, nicht ins Kino gehen oder keine Konzerte besuchen. Vermutlich werde ich noch lange warten müssen.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt