Der Spieler: Reiche Ernte dank intensiver Obstwirtschaft
Beim Stöbern bin ich unlängst auf eine Perle von einem Spiel gestossen. «Obsthain» heisst es und es passt so richtig zur Jahreszeit, die eben angebrochen ist: Es ist Herbst, und wir versuchen in der Plantage, die wir vorher angebaut haben, möglichst viel Obst zu ernten. Spielerinnen und Spielern ist dieses Thema vertraut, vor allem jenen, die mit dem Klassiker «Obstgarten» aufgewachsen sind.
Wenn ich «wir» schreiben, ist das nicht ganz korrekt. Denn «Obsthain» trägt den Untertitel «Ein Solo-Spiel». Vor wenigen Jahren noch waren Brett- und Kartenspiele, die man für sich allein spielen konnte, eine Seltenheit. Mittlerweile gibt es sie fast wie Sand am Meer, meistens als Variante eines Mehrpersonenspiels, bei dem die Interaktion unter den Mitspielenden von geringerer oder gar ohne Bedeutung ist.
Artenreines Solo-Spiel
«Obsthain» ist ein artenreines Solo-Spiel, bei dem es darum geht, gegen das Spiel zu gewinnen. Man benötigt keine Mitspielenden, sondern kann gleich loslegen, wenn man a) Lust, b) ein wenig Zeit und c) ein kleine Fläche zur Verfügung hat, um ein paar Karten auszulegen. Ja, und ein «Obsthain»-Exemplar sollte man noch bei sich haben. Was bei diesem Spiel kein Problem darstellen sollte, da es in einer kompakt-kleinen Verpackung geliefert wird, die überall Platz hat.
Wie die Verpackung ist auch die Ausstattung auf ein Minimum reduziert: 18 Karten (wobei man zum Spielen nur gerade mal deren neun benötigt) und ein paar farbige Würfel sowie zwei schwarze Markierungssteine. Das ist alles. Und man stellt sich beim Auspacken und nach dem ersten Lesen der Spielanleitung, die man zwei, drei Minuten intus hat, unweigerlich die Frage, ob es sich hier um wirklich das gleiche Spiel handelt, das 2018 vom weltweit wichtigsten Spiele-Portal Board Game Geek mit einem ersten Preis ausgezeichnet worden ist.
Nach wenigen Runden Zweifel ausgeräumt
Eine, zwei Runden «Obsthain», und allfällige Zweifel sind ausgeräumt: Denn Minimalspiele dieser Art sind in der Regel sehr transparent und lassen schnell erkennen, welches Potenzial in ihnen steckt. Auf jeder Karte sind sechs Obstbäume abgebildet, je zwei Apfel-, Birn- und Pflaumenbäume. Deren Anordnung ist auf jeder der insgesamt 18 Karten unterschiedlich. Zu Beginn lege ich eine Karte aus. Dann nehme ich zwei weitere Karten vom verdeckten Stapel auf die Hand und lege eine davon auf die zuvor ausgelegte Karte ab, und zwar so, dass sie diese mindestens teilweise überdeckt. Auf der hinzugefügten Karte markiert man mit einem Würfel der entsprechenden Farbe jeden Baum, der einen gleichfarbigen Baum überdeckt. Dann zieht man eine Karte nach, so dass man immer aus zwei Handkarten wählen kann. Sind neun Karten gespielt, wird gewertet, und eine neue Runde kann beginnen.
Mit der Zeit wird der Obsthain immer grösser. Damit steigt auch die Zahl der Möglichkeiten, viele Früchte zu ernten. Vorausgesetzt, man kann seine Karten entsprechend platzieren. Das ist leichter gesagt, als getan. Denn die Erträge einer Sorte lassen sich nur steigern, indem es mir gelingt, gleichfarbige Bäume übereinander zu legen. Eine erste Lage bringt mir jeweils einen, eine zweite drei, eine dritte sechs und eine vierte gar zehn Siegpunkte. Doch aufgepasst, wie in einer richtigen Obstplantage können auch in unserem «Obsthain» Würmer Schaden anrichten. Muss ich beispielsweise einen Apfelbaum mit einem Pflaumenbaum überdecken, so bekomme ich drei Minuspunkte als Strafe.
Ein höchst dichtes Spiel
«Obsthain» ist ein höchst dichtes Spiel. Dass kommt daher, dass man eine intensive Obstwirtschaft betreiben muss, um eine reiche Ernte einzufahren. Intensiv heisst, bereits ausgelegte möglichst mehrfach zu überdecken, zwei-, drei- oder am besten viermal. Doch dafür wird im Verlauf des Spiels der Raum immer enger, womit es immer schwieriger wird, Platz zu finden, um seine Karten nutzbringend abzulegen.
Ein Durchgang dauert zwar nur etwa zehn Minuten, aber das Spiel ist höchst anspruchsvoll. Ich frage mich, ob ich es je über 40 Punkte schaffen oder gar auf das «Newton-Niveau» kommen werde, das gemäss Spielanleitung bei 55 oder mehr Punkten erreicht wird. Üben, üben! Und nach jeder Wertung sagen, das nächste Mal schaffe ich doch sicher noch einen Punkt mehr … Das kleine Spiel könnte süchtig machen.
Spannender Vergleich der Obsthaine
Auch wenn «Obsthain» als Solo-Spiel konzipiert ist, kann man es auch gegeneinander spielen. Dazu benötigt man pro mitspielende Person ein Exemplar des Spiels (was angesichts des günstigen Preises kein Problem darstellen sollte). Gespielt wird nach den Regeln des Solospiels mit der Ergänzung, dass eine Spielerin bestimmt wird, welche die Rolle der Ansagerin übernimmt. Sie sagt an, welche Handkarten sie jeweils aufgenommen hat, worauf die übrigen Mitspielenden die entsprechenden gleichen Karten aus ihrem Kartenstapel auswählen, auf die Hand nehmen und anschliessend in den Obsthain ablegen. Damit das funktioniert, sind alle Karten nummeriert.
Ich mag dieses Spiel mit gleichen Karten. Alle haben die gleichen Chancen, alle kämpfen mit den gleichen Tücken, niemand kann behaupten, er habe schlechtere Karten als die Mitspielenden. Immer spannend ist am Schluss der Vergleich der verschiedenen Obsthaine. Und es ist schon erstaunlich, dass bei so wenig Material (nur neun Karten!) so unterschiedliche Ergebnisse zustande kommen. Es versteht sich von selbst, dass das auch hier ähnlich wie in Jassrunden intensiv diskutiert wird.
Nicht unbedingt locker
Spielen mit gleichen Vorgaben – «Obsthain» ist nicht das erste oder einzige Spiel, das mit dieser Möglichkeit aufwartet oder auf diesem Prinzip basiert. Für mich ist die Mutter aller dieser Spiele das 1994 erschienene «Take it easy!». Dieses strategisch-taktische Legespiel, das sich im Lauf der Zeit zu einem Klassiker für Jung und Alt entwickelt hat, nehme ich immer für Runden mit, in denen auch Leute dabei sind, die eher weniger spielen.
In Anlehnung an den Titel preist die Spielanleitung «Take it easy!» als «lockeres» Legespiel an. Doch so harmlos, wie es auf den ersten Blick erscheint, ist es nicht. Im Gegenteil, je mehr sechseckige Plättchen man auf seinem Brett gelegt hat, desto schwieriger wird es, durchgehende Farblinien von Rand zu Rand zu bilden. Je länger eine Reihe ist und je höher die auf jedem Plättchen aufgedruckte Zahl, desto mehr Punkte bringt sie in der Schlusswertung ein.
Scharfer Blick fürs Ganze
Frei wählen kann man die Plättchen jedoch nicht, die man legen möchte. Stattdessen muss man sich an die Vorgabe der so genannten «Öffnerin» halten, die zufällig ein Plättchen aus ihrem Stapel wählt und dieses den Mitspielenden zeigt, die alle dann das identische Plättchen von ihrem eigenen Haufen nehmen und auf ihrem Brett ablegen. Manchmal passt das aufgenommene Teil ganz gut, aber manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, als ein Plättchen so zu legen, dass es in einer Reihe, von der man sich viele Punkte erhofft hatte, alles zunichte macht. Frust und Ärger pur! In der Regel kann man sich jedoch damit trösten, dass es den Mitspielenden nicht besser ergangen ist.
307 Punkte soll man nach Angaben der Entwickler in «Take it easy!» Erreichen können. Wer das schafft, verfügt garantiert über einen scharfen Blick fürs Ganze. Wer sich hingegen im Klein-Klein verliert, wird nie auf einen grünen Zweig kommen.
Ein bitterböses Kartenspiel
Gleiche Voraussetzungen für alle: Dass sich dieses Prinzip noch ganz anders umsetzen lässt als in «Obsthain» oder «Take it easy!», zeigt der bekannte deutsche Autor Stefan Dorra in «Land unter». In diesem bitterbösen Kartenspiel gilt die Ausrede, man habe beim Austeilen schlechte Karten bekommen, gar nicht. Dies verhindert ein ganz einfacher Mechanismus, indem ich am Ende eines Durchgangs meine Karten, mit denen ich den Durchgang bestritten habe, meiner rechten Nachbarin weitergebe. Sie spielt nun den nächsten Durchgang mit diesen Karten, während ich mit jenen spiele, die ich von meinem linken Nachbarn bekommen habe. Dann wieder Weitergeben und Spielen bis zur Schlusswertung, die erst erfolgt, wenn alle Teilnehmenden mit allen Karten, die zu Beginn verteilt wurden, einmal gespielt haben.
Bitterböse ist «Land unter», weil es hier darum geht, Schafe vor den reissenden Hochwasserfluten zu retten. Allerdings sind die uns zur Verfügung stehenden Mittel sehr knapp, womit die Katastrophe irgendeinmal eintreten wird, spätestens dann, wenn die Rettungsringe ausgehen.
Mir gefällt die Mischung aus Taktik, Bluff und Psychologie so gut, dass «Land unter» eines meiner Lieblingsspiele ist. Ich würde es auf die einsame Insel mitnehmen, vorausgesetzt, es hätte dort auch noch ein paar andere Menschen. Denn «Land unter» lässt sich im Unterschied zu «Obsthain» und «Take it easy!» nicht allein spielen.
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Obsthain: Taktisch-strategisches Legespiel von Mark Tuck für 1 Person ab 10 Jahren. Verlag Boardgamecircus, ca. Fr. 15.- Bemerkung: Wenn mehrere Personen spielen wollen, benötigen alle je ein Exemplar.
Take it easy! Legespiel von Peter Burley für 1 bis beliebig viele Mitspielende ab 10 Jahren. Verlag Ravensburger, Fr. 24.50.
Land unter: Taktisches Kartenspiel von Stefan Dorra für 3 bis 5 Mitspielende ab 10 Jahren, Nürnberger Spielkartenverlag NSV, zur Zeit leider vergriffen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker Synes Ernst war lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.