Der Spieler: «Modern Times» mit Vögeln, Eiern und Futter
Er ist 22 bis 37 Zentimeter lang, und seine Flügel haben eine Spannweite bis zu 39 Zentimetern – auf dem Cover von «Flügelschlag» zeigt sich der Scherenschwanz-Königstyrann (Tyrannus forficatus) in seiner vollen Pracht. Ein echter Hingucker, der seine Wirkung nicht verfehlt. Wo auch immer über das neue Sammel- und Aufbauspiel von Elizabeth Hargrave gesprochen oder geschrieben wird, fehlt es nicht an Lobeshymnen für Gestaltung und Ausstattung. Kritiker-Kollege Henrik Breuer setzte gar den Titel «Das schönste Brettspiel der Welt» über seine Rezension auf «Insidegames».
Selbst wenn bei solchen Superlativen Vorsicht angebracht ist, «Flügelschlag» ist, was Design, Material und redaktionelle Bearbeitung betrifft, ein ausserordentliches Spiel, und zwar bis hin zum kleinsten Detail. Das Titelbild ist hell und leicht, eine Aufmachung, die nicht zuletzt auch ein Publikum ansprechen soll, das weder die Historienbilder noch die Fantasy- und Comicfiguren und Farb-Orgien mag, wie man sie heute in den Regalen der einschlägigen Geschäfte massenweise antrifft. Das Qualitätsbewusstsein, mit dem dieses Spiel produziert worden ist, springt auch gleich ins Auge, wenn man die Verpackung öffnet: Als Beispiel seien nur die 170 von Natalia Rojas, Ana Maria Martinez Jaramillo und Beth Sobel illustrierten Vogelkarten, der als Karton-Vogelhäuschen gestaltete Würfelturm, die 75 Miniatur-Eier oder die grosszügig aufgemachte, leserfreundliche Spielanleitung erwähnt. All das hätte man auch billiger haben können. Ob dann die Vorfreude auf das Spielen mit diesem Material auch so gross gewesen wäre wie hier – ich bezweifle es.
Die Messlatte liegt hoch
Doch wir wollen «Flügelschlag» nicht als Designobjekt irgendwo im Wohn- oder Spielzimmer aufstellen, sondern spielen und herausfinden, ob es die hohen Erwartungen, die durch das Erscheinungsbild geweckt werden, auch zu erfüllen mag. Erwartungen, die seit Ende Juli noch gestiegen sind, nachdem es von der Kritiker-Jury mit dem Titel «Kennerspiel des Jahres» ausgezeichnet worden ist. Zielpublikum dieser Art von Spielen sind Menschen, die über längere Erfahrung mit Brettspielen verfügen und die im Spiel mehr und auch anspruchsvolle Herausforderungen suchen. Die Messlatte für «Flügelschlag» ist, mit anderen Worten, hoch, sehr hoch sogar.
In der Anfangsphase meiner Tätigkeit als spielender Ornithologe oder Vogelbeobachter fühle ich mich erst einmal ein wenig hilflos angesichts der schieren Materialfülle auf der einen und der unendlichen Möglichkeiten auf der anderen Seite, was man mit diesen Vögeln, Eiern, Würmern, Fischen, Mäusen alles anstellen kann. Anhand der hervorragend aufgebauten Spielanleitung verstehe ich den Ablauf jedoch schnell, und relativ rasch weiss ich, wie und zu welchem Preis ich zu Vögeln komme, in welche Landschaften ich sie platzieren kann und wie ich an das Futter und die Eier gelange, mit denen ich meine Aktionen bezahle. Das alles ist denkbar einfach, was den Einstieg in «Flügelschlag» erleichtert.
Die Herausforderung kommt erst jetzt: Wann mache ich genau was? Darauf gibt es nur die an ein lateinisches Sprichwort angelehnte Antwort: Was man macht, tue man klug und bedenke das Ziel. Und Ziel bedeutet in «Flügelschlag»: Nach vier Runden am meisten Punkte haben. Dazu muss ich auf meinem Tableau ein Set von Vogelkarten zusammenstellen und dieses so optimieren, dass beim Zusammenspiel der unterschiedlichen Fähigkeiten der einzelnen Vögel möglichst viel Punkte herausschauen. Als Spieler bin ich von Anfang an an allen Ecken und Enden gefordert, um die Punkteproduktionsmaschine, die ich mir im Verlauf einer Partie baue, in Gang zu setzen und dann gewinnbringend am Laufen zu halten. Die Fliessbänder heissen hier Aktionsketten: «Modern Times» mit Vögeln, könnte man sagen.
Komplexes Meccano, genial entwickelt
Das führt zu einem Paradox: Ich betrachte «Flügelschlag» als eine Maschine, die einen geradezu auffordert, ihren Output zu maximieren, indem man hier an einer Stellschraube dreht und dort an einem Hebel herumhantiert. Ja, sie gibt einem bereits nach wenigen Partien das verführerische Gefühl, man könne sie beherrschen, sofern man nur die richtige Strategie wähle. Doch das komplexe Meccano ist so genial entwickelt, dass es letztlich wohl nie ganz durchschau- und beherrschbar ist. Ich kenne einige, die das als unbefriedigend empfinden, zumal der Glücksfaktor doch recht hoch ist. So kann es beispielsweise vorkommen, dass man bei den nach dem Zufallsprinzip verteilten Startkarten Pech hat und deswegen wertvolle Aktionspunkte aufwenden muss, um diesen Nachteil auszubügeln, während die Konkurrenz dank guten Karten bereits davon eilt. Und was kann man dagegen unternehmen, wenn mir keine Fische oder Mäuse, die ich dringend für den Kauf eines bestimmten Vogels benötige, zur Verfügung stehen, nur weil die entsprechenden Würfel nicht fallen?
Ich kann den Hype, den «Flügelschlag» ausgelöst hat, nicht ganz nachvollziehen. Für mich ist das Verhältnis Zufall/Beeinflussbarkeit unbefriedigend. Und trotzdem: Nachdem ich über die Einstiegsphase hinaus bin, verspüre ich weiter grosse Lust, mich mit dieser Maschine zu beschäftigen und ihren Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Wer weiss, vielleicht finde ich doch noch eine Strategie, die mir einen Ehrenplatz unter den spielenden Ornithologen verschafft. Und das an einem derart schönen Objekt auszuprobieren, lohnt sich allemal.
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Flügelschlag: Sammel- und Aufbauspiel von Elizabeth Hargrave für 1 bis 5 Spielerinnen und Spieler ab 12 Jahren. Verlag Feuerland. Fr. 57.90. Auf der Webseite des Verlags gibt es eine Liste von Schweizer Fachgeschäften, in denen das Spiel erhältlich ist.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.