aa_Spieler_Synes-66

Synes Ernst: Spiel-Experte © cc

Der Spieler: «Ligretto» versetzt Kartenspieler in Temporausch

Synes Ernst. Der Spieler /  «Ligretto» feiert sein 30-Jahr-Jubiläum. Es ist ein Kultspiel, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird.

Es war im Sommer 1995 auf der dänischen Insel Samsø, als ich feststellen musste, dass ich der Herausforderung dieses Spiels definitiv nicht mehr gewachsen war. Wir – meine Frau Charlotte und ich, meine Tochter Katrin und ihre Nichte Nicole – verbrachten dort unsere Ferien. Ich hatte einige Spiele mitgenommen, mit denen wir uns dann stundenlang unterhielten. Zum Favoriten entwickelte sich innert kürzester Zeit «Ligretto»; vor allem die beiden Teenager waren angefressen, besser gesagt: «Ligretto»-süchtig.

Diese Art von Rausch kennen alle, die in ihrem Leben einmal richtig intensiv «Ligretto» gespielt haben. Es handelt sich um ein einfaches Kartenablegespiel, das man dank eines eingängigen und leicht erlernbaren Mechanismus gleich losspielen kann. Das allein besitzt noch kein Suchtpotenzial. Oder hat man schon gehört, dass jemand von sich sagt, er sei «Rommé»-süchtig? Da braucht es schon ein paar Zutaten mehr. Bei «Ligretto» sind es Konkurrenz, Gleichzeitigkeit, Reaktion und Geschwindigkeit. Die Kombination dieser Elemente treibt den Adrenalinspiegel und den Blutdruck der Mitspielenden in die Höhe, man gerät ins Schwitzen, die Anspannung steigt und steigt … bis jemand mit dem Ruf «Ligretto» die Runde beendet und alle von Druck und Stress befreit. Erlösung, Abschlaffen – und schon geht’s weiter zum nächsten Durchgang. Noch einmal und noch einmal – das ist sie, die «Ligretto»-Sucht.

Hektisch und schnell

Ein emotionsgeladenes wunderbares Erlebnis, so lange man mitzuhalten vermag. Denn irgend einmal kommt der Punkt, an dem man feststellen muss, dass andere Mitspielende schneller sind, nicht einmal, nicht zweimal, sondern in jeder Runde. In anderen Bereichen, zum Beispiel in der Wirtschaft, würde man in einem solchen Fall von einem strukturellen Problem sprechen. Dass mich «Ligretto» überforderte, musste ich mir in jenen dänischen Sommerferien eingestehen, als mich Tochter und Nichte noch und noch an die Wand spielten. Meiner Frau erging es übrigens ebenso, aus dem gleichen Grund wie mir: Das Spiel war uns zu hektisch und zu schnell. Was für die Teenies mit Lustgewinn verbunden war, bedeutete für uns Ältere vor allem Stress. Denn wir beide waren mit knapp Fünfzig bereits in einem Alter, in dem es normal ist, dass die geistige und haptische Reaktionsfähigkeit nachzulassen beginnt. Und genau das ist bei «Ligretto» gefordert wie selten in einem Spiel. Wer diese Fähigkeiten nicht mitbringt, hat hier keine Chance. Denn «Ligretto» ist gnadenlos.

Warum ich gerade jetzt über «Ligretto» schreibe? Der Verlag Schmidt Spiele, bei dem das Ablegespiel seit 2000 erscheint, erinnerte dieser Tage daran, dass «Ligretto» seinen 30. Geburtstag feiere. Das stimmt nur ungefähr, da es 1988, nicht 1989, vom Hamburger Verlag Rosengarten Spiele erstmals veröffentlicht wurde, damals noch unter dem Namen «Legretto». Wer die Spielidee ursprünglich entwickelt hat, lässt sich nicht mehr eruieren. Möglicherweise geht «Ligretto» zurück auf das praktisch identische Kartenspiel «Rasender Teufel», das 1927 von Robert Hülsemann in «Das grosse Buch der Spiele» beschrieben wurde.

Blitze statt Kugeln

Eine andere Wurzel könnte auch zu «Dutch Blitz» führen, das nach den gleichen Regeln wie «Ligretto» gespielt wird. Gemäss Wikipedia ist dieses Ablegespiel heute noch bei den Pennsylvania-Deutschen und den Amischen in den USA beliebt. Es war 1959 vom deutschen Auswanderer Werner Ernst George Müller 1959 erfunden worden, «um Kindern ein besseres Zahlen- und Farbverständnis zu vermitteln». Bemerkenswert: Auf der Verpackung von «Dutch Blitz», auf der zwei Figuren in amischer Kleidung abgebildet sind, wird mit der Bemerkung auf den Suchtcharakter des Spiels aufmerksam gemacht, wenn man einmal damit begonnen habe, werde man wohl den ganzen Tag spielend verbringen … Man könnte es übrigens durchaus als Verneigung vor diesem Vorfahren interpretieren, dass Schmidt Spiele zum 30-Jahr-Jubliäum «Ligretto» ein neues Design verpasst hat. Statt Kugeln zieren nun Blitze die Karten.

Kennengelernt habe ich das rasante Kartenablegespiel Mitte der 1980er Jahre an einem Ausbildungskurs des Vereins der Schweizer Ludotheken. Ich hatte als Referent meinen Vortrag beendet, als mich in der folgenden Diskussion eine Teilnehmerin fragte, ob ich etwas zu «Dutch Blitz» sagen könne. Nein, wie peinlich! Ich bat um eine Beschreibung, worauf die angehende Ludothekarin das Spiel auf den Tisch legte und kurz die Regeln erklärte. Gesagt, getan, wir spielten los, eine Partie, zwei Partien – ich war angefixt.

350’000mal verkauft der Schmidt Verlag nach eigenen Angaben jährlich weltweit. Solche Auflagen erreichen nur wenige Spiele. Es ist ein Titel, der von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Dass «Ligretto» Kultstatus erlangt hat, erkennt man schliesslich auch daran, dass man sofort begeisterte Geschichten zu hören bekommt, wenn man Leute fragt, ob sie das Ablegespiel kennen: «Oh ja, das habe ich in meiner Jugend wie verrückt gespielt.»

Übrigens: Im Interesse friedlicher und erholsamer Sommerferien auf Samsø haben wir uns auf geregelte Spielzeiten geeinigt: tagsüber «Ligretto», abends Jassen. Es hat geklappt.

———

Ligretto: Ablegespiel mit Karten für 2 bis 4 (mit Erweiterungen bis 12) Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Verlag Schmidt Spiele (Vertrieb Schweiz: Carletto AG, Wädenswil), ca. Fr. 15.-


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.

Zum Infosperber-Dossier:

Synes_Ernst 2

Der Spieler: Alle Beiträge

Spielen macht Spass. Und man lernt so vieles. Ohne Zwang. Einfach so.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.