Der Spieler: Kurpfuscher und Kenner
Menschen, die viel und gerne spielen, Menschen, die bereit sind, sich mit umfangreichen Spielanleitungen auseinanderzusetzen, und Menschen, die fähig sind, die Potenziale, die in einem komplexen Spiel stecken, zu entdecken, auszuloten und immer wieder neu zu
interpretieren – früher waren das die Vielspieler. Heute heissen sie anders, es sind die so genannten Kenner, das Zielpublikum des «Kennerspiels des Jahres», das die Fachjury «Spiel des Jahres» seit 2011 wählt. Die genannten Kriterien erlauben den Schluss, dass Kenner das Spielgeschehen selber gestalten wollen. Dass sie lieber selber sagen, wo’s lang geht, als dass sie sich,
fremdbestimmt, Entscheiden Dritter fügen müssen. Wobei dieser Dritte auch Zufall heissen kann, zum Beispiel in Form von Würfeln.
Hoher Zufallsfaktor
So betrachtet hat die Jury «Spiel des Jahres» bei der diesjährigen Entscheidung mit zwei saftigen Überraschungen aufgewartet, zuerst bei der Nominierung, dann beim Entscheid: Mit dem taktischen Würfelspiel «Ganz schön clever» und dem witzigen Risikoeinschätzungsspiel «Die Quacksalber von Quedlinburg» nominierte die Jury zwei Titel mit einem für diese Kategorie aussergewöhnlich hohen Zufallsfaktor zum «Kennerspiel des Jahres». Bei der Wahl des Preisträgers hätte sie sich auch noch zugunsten von «Heaven & Ale» entscheiden können, das von allen drei Nominierten als einziges dem gängigen Bild eines Kennerspiels
entsprochen hat. Gewonnen haben jedoch die «Quacksalber». Zu erwarten war dieser Entscheid nicht. Vor allem auch nicht, weil die Wahl auf ein Spiel
gefallen ist, das die Jury in ihrer Begründung so beschreibt: „Das Köcheln mit zufällig gezogenen Zutaten sorgt bei ‚Die Quacksalber von Quedlinburg‘ für
Geschmacksexplosionen und für ein Feuerwerk der Emotionen. Schadenfreude, Jubel und Wehklage wechseln sich in schneller Abfolge ständig ab.“ Die Beschreibung eines hochkarätigen Strategiespiels liest sich anders.
Geniale Verbindung
Was können denn «Die Quacksalber von Quedlinburg» zur Verteidigung ihrer Position als «Kennerspiel des Jahres» vortragen? Einiges. Es ist wohl kein Zufall, dass es sich im
Wesentlichen mit dem deckt, was auch das Würfelspiel «Ganz schön clever» zum valablen Anwärter auf den Kenner-Preis gemacht hat – die geniale Verbindung von Zufall und Taktik (siehe meinen Beitrag zu «Ganz schön clever», Link am Ende dieses Artikels). In beiden
Titeln spielt das Glück zwar eine grosse Rolle, spielentscheidend ist jedoch, was Spielerinnen und Spieler aus dem machen, was ihnen die Würfel vorgeben oder ihre Hand aus dem Vorratsbeutel hervorzaubert. Die deutliche Verwandtschaft zwischen «Quacksalber von Quedlinburg» und «Ganz schön clever» lässt sich plausibel erklären: Beide stammen vom gleichen Autor, vom Österreicher Wolfgang Warsch.
Die Geschichte, um die sich das «Kennerspiel des Jahres» dreht, ist die folgende: Alljährlich findet in Quedlinburg ein Basar statt, an dem die bekanntesten Wunderheiler des Landes teilnehmen. Doch wer ist der beste unter ihnen? Das ist der, der das wirksamste Mittel gegen
Schweissfüsse, Heimweh, Schluckauf und Männergrippe zusammenbraut. Jeder Kurpfuscher hat sein eigenes Rezept. Die Ingredienzen – Krähenschädel, Fliegenpilz,
Alraunwurzel, Totenkopffalter und anderes mehr – nimmt er nach dem Zufallsprinzip verdeckt aus seinem Vorratsbeutel und legt sie in seinen Kochtopf, in dem es bald brodelt und dampft. Das macht man, solange man will. Doch aufgepasst!
Vorsicht Knallerbsen
Die Chips, die man aus dem Beutel zieht, tragen unterschiedliche Farben. Bei Weiss sollte
man besonders vorsichtig sein, da weisse Chips Knallerbsen symbolisieren. Zu viele davon
bringen den Kessel zum Explodieren, was wiederum bedeutet, dass man bei der Wertung dieses Durchgangs schlechter fährt. Das sollte man unbedingt vermeiden. Wie? Indem man rechtzeitig mit dem Ziehen von Zutaten-Chips aufhört und sich mit dem begnügt, was man im
Kessel hat. Risikoabschätzung heisst das, unter Spielern auch als Can’t Stop-Prinzip bekannt.
Der amerikanische Autor Sid Sackson hatte diesen Mechanismus in den 1970er Jahren bei einem Würfelbrettspiel eingesetzt, das dann 1981 unter dem Namen «Can’t stop» auf den Markt kam. Das Prinzip besagt, dass man, wenn man an der Reihe ist, so lange würfeln oder auch Karten ziehen kann, wie man will. Jedesmal steigt aber das Risiko, dass man alles
verliert, was man in seinem Zug bisher erreicht hat. Rechtzeitig aufhören, lautet also die Devise. Doch die richtige Dosierung ist nicht einfach: Da gibt es nämlich die dem Menschen eigene Gier, die sagt: Nur noch einmal, da kann doch nichts passieren! Noch einmal … Und
nicht zu vergessen die „lieben“ Mitspieler, die einem „gute“ Ratschläge erteilen: Was, du kannst doch nicht schon aufhören? Versuch’s doch noch einmal! Noch einmal …
Das Can’t Stop-Prinzip sorgt für Spannung, Freude, aber auch für Schadenfreude – Emotionen pur! Man darf diesen Emotionen ruhig freien Lauf lassen.
Gleichzeitig sollte man auch einen kühlen Kopf bewahren. Diesen braucht man unbedingt, um etwa den Inhalt seines Vorratsbeutels durch gezielten Zukauf von neuen, wertvolleren Zutaten zu vergrössern und gleichzeitig zu optimieren (Bag-Building heisst das
in der Sprache der Spieler). Die damit verbundene Herausforderung ist strategisch und taktisch recht anspruchsvoll, da der Autor ein reiches Angebot von Kombinations- und Entscheidungsmöglichkeiten bereitstellt. Bis man dessen Dimension in seiner vollen Tiefe erschlossen hat, braucht es einige Wettkämpfe. Ob jene der Wunderheiler und Kurpfuscher in Quedlinburg auch so vergnüglich und unterhaltsam waren wie unsere? Wir wissen es nicht.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.