Glosse
Der Spieler: Konkurrenz des Aussergewöhnlichen
Für die Welt der Brett- und Gesellschaftsspiele hat die Auszeichnung »Spiel des Jahres« ungefähr den gleichen Stellenwert wie der Literaturnobelpreis für die Welt des Buchs. Hier wie dort warten Publikum, Autoren, Verlage und alle zugewandten Orte wie etwa die Literaturkritik auf die Entscheide des Wahlgremiums. Und sobald aus dem Verfahrensprozess etwas bekannt wird, meldet sich hier wie dort der Begleittross jener, die wirklich etwas zu sagen haben, aber auch jener, die meinen, sie hätten etwas zu sagen, zu Wort. Das Getöse ist jeweils gewaltig, und seit Meinungen dank der Digitalisierung praktisch zum Nulltarif produziert und unter die Leute gebracht werden können, ist der Lärm ohrenbetäubend geworden. Sowohl im Literatur- als auch im Spielbetrieb.
Gelassenheit in der Branche
Nun aber ist von Erstaunlichem zu berichten: Von der Gelassenheit nämlich, mit der die Branche die diesjährigen Jury-Vorentscheide aufgenommen hat. Beifall, Zustimmung, hie und da leise Kritik und nur wenig Gemecker von den freudlosen Nörglern und notorischen Besserwissern, die beide in der Welt der Spiele überdurchschnittlich vertreten sind.
Woran liegt das? Die Antwort ist relativ einfach: Die Jury hat ihren Job gut gemacht. Wer die aktuellen Neuheiten unter den Brett- und Gesellschaftsspielen gespielt hat, wer die Rezensionen der wirklich ernstzunehmenden Kritikerinnen und Kritiker gelesen oder die Diskussionen in den einschlägigen Web-Foren und Blogs verfolgt hat, stellt fest, dass auf den Jury-Listen praktisch alle Titel zu finden sind, die gemäss publizierter Meinung eine solche Hervorhebung verdient haben.
Schwieriges Kunststück
Dabei hat die Jury das schwierige Kunststück zustande gebracht, die Zahl der empfohlenen Spiele möglichst knapp zu halten. Erfreulicherweise ist sie nicht der Versuchung erlegen, die Listen nach dem Motto »Für jeden etwas« aufzublähen. Trotzdem soll jeder Interessierte hier »ein Spiel für seinen Geschmack und Anspruch finden«, schreibt Tom Felber, Vorsitzender der Jury. Mit den Nominierungs- und Empfehlungslisten verfolgt die Jury nicht zuletzt das Ziel, Konsumentinnen und Konsumenten auf qualitativ hochstehende Titel hinzuweisen. Je fassbarer die Hinweise (auch in der Zahl), desto besser. Und je klarer die Aussage, desto überzeugender gelingt es der Jury, in der Debatte über die Qualität von Spielen jene Führungsrolle zu spielen, die sie mit Hinweis auf die Kompetenz, den Aufwand und die Ernsthaftigkeit, mit der sie sich mit dem Thema auseinandersetzt, für sich beanspruchen kann.
Vor diesem Hintergrund bin ich gespannt, ob die Jury den Mut haben wird, das in eine Agentenstory verpackte Sprach-, Party- und Kommunikationsspiel »Codenames« zum »Spiel des Jahres« zu küren, das allgemein als Kronfavorit gilt. Das Werk des Tschechen Vlaada Chvátil ist zwar von den Regeln, vom Einstieg und vom Ablauf her auch für ein breites Publikum leicht zugänglich. Zudem besitzt es ein grosses Unterhaltungspotenzial, vor allem in einer entsprechend zusammengesetzten Runde. Allerdings gibt es da noch ein grosses Aber: Spiele, bei denen primär und auf hohem Niveau in einer abstrakten Begriffswelt herumgeturnt wird, sind nicht jedermanns Sache. Also doch, trotz Pole-Position, kein Siegeskranz für »Codenames«, weil das Zielpublikum klar eingeschränkt ist?
Meilenstein oder echte Innovation
Man könnte sich jedoch auch vorstellen, dass die Jury ihre Leadership auch dahingehend interpretiert, dass sie ein Spiel gerade deshalb würdigt, weil es einen Meilenstein oder eine echte Innovation in der Spielentwicklung darstellt. Das hat die Jury schon mehrmals gemacht und ist damit nicht schlecht gefahren. Als Ende der 1980er-Jahre die sogenannten Party- und Kommunikationsspiele auf den Markt kamen und sich gleich als Spielegattung mit hohem Unterhaltungspotenzial etablierten, zeichnete die Jury 1988 »Barbarossa und die Rätselmeister« als damals gelungenste Umsetzung dieser Spielidee aus, obwohl man wusste, dass Kneten nicht unbedingt das Ding war, worauf erwachsene Menschen nun warteten. Trendsetzend waren auch »Die Siedler von Catan«, die auch dank der Auszeichnung »Spiel des Jahres« (1995) einen bis heute anhaltenden Boom im Brett- und Gesellschaftspielbereich auslösten, nicht nur in Deutschland.
Bahnbrechend war die Jury auch mit ihrem Entscheid zugunsten von »Dominion« (2009), das mit einem bis dahin unbekannten Kartenspiel-Mechanismus aufwartete. Es hat sich gelohnt, das Risiko einzugehen: »Dominion« hat sich in der Zwischenzeit zu einem Klassiker entwickelt, was letztlich die höchste Anerkennung bedeutet, die ein Spiel überhaupt gewinnen kann. Schliesslich erinnere ich daran, dass die Jury 2013 mit der Wahl von »Hanabi« mit dem weitverbreiteten Vorurteil aufräumte, in einer kleinen Verpackung könne kein qualitativ hochstehendes Spiel stecken. Auch für diesen Entscheid hatte es Courage und ein gewisses Mass an Selbstbewusstsein gebraucht.
Ideale Botschafter, aber …
Nun also steht die Wahl des Preisträgers 2016 bevor: Mit der Nominierung von »Codenames« hat die Jury, ihre Entscheidung, die sie am 18. Juli in Berlin bekannt geben wird, stark präjudiziert: Sie kann zwar auch »Imhotep« und »Karuba« zum »Spiel des Jahres« wählen, die ebenfalls auf der aktuellen Nominierungsliste stehen. Beides wären ideale Botschafter für das Spielen und würden einem breiten Publikum viel Spass und beste Unterhaltung bereiten. Es sind grundsolide Spiele, die man überall empfehlen kann. Aber: Ausgerechnet in dem Jahr, in dem sie die wichtigste Auszeichnung für Brett- und Gesellschaftsspiele gewinnen könnten, haben sie eine Konkurrenz, die ihnen in Sachen Innovation und Entwicklungspotenzial überlegen ist: »Codenames«.
Ein solches Spiel kommt nicht jedes Jahr auf den Markt. Jetzt aber liegt eines vor, also …
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».