Glosse
Der Spieler: Jeder Stich ist ein Risiko
Es war Ende Oktober 1995. Der damalige Finanzminister Otto Stich war daran, sein Büro im «Bernerhof», seinem Amtssitz, zu räumen. Er hatte im August seinen Rücktritt angekündigt und damit im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen für Aufregung gesorgt. Trotz der Hektik der letzten Tage fand Stich noch Zeit für ein Interview mit der «LNN», für die ich damals als Bundeshausredaktor arbeitete. Als das Gespräch beendet war, überreichte ich Stich ein kleines Abschiedsgeschenk – das 1993 erschienene «Sticheln», mein Lieblingskartenspiel.
Eingefleischter Jasser
Es war – bis auf eine Ausnahme, auf die ich am Schluss dieses Textes zurückkommen werde –, das einzige Geschenk, das ich in meiner journalistischen Laufbahn einem Gesprächspartner mitbrachte. Warum ausgerechnet Otto Stich? Es war kein Geheimnis, dass der SP-Politiker ein eingefleischter Jasser war. Ein Kartenspiel als Mitbringsel lag also nahe. Und wenn eines auf dem Markt war, das «Sticheln» hiess, musste es dieses sein. Der Name spielte auch auf die Tatsache an, dass Otto Stich, wenn er verärgert war, mit seinen Sticheleien niemanden verschonte, auch seine Amtskollegen nicht.
An diese Geschichte erinnerte ich mich, als fast am gleichen Tag, an dem die Nachricht vom Tode Otto Stichs die Runde machte, ein kleiner deutscher Verlag darüber informierte, dass er das seit einiger Zeit vergriffene «Sticheln» wieder auf den Markt bringen würde.
Wer taktische Kartenspiele mag, kommt an «Sticheln» nicht vorbei. Sein Titel ist doppeldeutig: Erstens handelt es sich um ein Stichspiel. Und zweitens besitzt es einen hohen Stichelfaktor, weil man seine Mitspielerinnen und Mitspieler mit dem geschickten Ausspielen von Karten tüchtig ärgern kann. Das Spielmaterial besteht aus sechs Kartensätzen in sechs Farben mit jeweils 15 Karten in den Werten 0 bis 14. Man bekommt zu Beginn 15 Karten, von denen man eine weglegt und so seine «Ärgerfarbe» bestimmt. Karten dieser Farbe sollte man unbedingt meiden, denn sie bringen Ärger in Form von Minuspunkten. Wer eine Karte ausspielt, legt pro Durchgang die Startfarbe fest. Diese muss nicht bedient werden. Den Stich gewinnt die höchste der ausgespielten andersfarbigen Karten.
Hohe Frustrationstoleranz gefordert
Ein äusserst origineller und gleichzeitig hinterhältiger Mechanismus, der jeden Stich zum Risiko macht. Wer dieses minimieren und möglichst viel Siegpunkte holen will, braucht neben taktischem Geschick ein gutes Einfühlungsvermögen: Wer vorausahnt, welche Karten die anderen ausspielen werden, verbessert seine Gewinnchancen. Von Vorteil ist schliesslich auch eine hohe Frustrationstoleranz, um die Sticheleien, die in diesem Spiel unausweichlich sind, zu ertragen.
Ob Otto Stich jemals «Sticheln» gespielt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Eher nicht. Wer ein eingefleischter Jasser, Skat- oder Bridge-Spieler ist, schwört auf sein Lieblingsspiel und zeigt in der Regel wenig Lust auf Neues. Das ist schade. Denn sowohl unter den Klassikern als auch unter den Neuerscheinungen der vergangenen Jahre gibt es Kartenspiele, die ebenso viel oder noch mehr bieten an Spass, Abwechslung, Witz oder Spannung.
Nun noch zur oben erwähnten Ausnahme: Als SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss 2002 nach ihrem Rücktritt einige Medienschaffende zu einem Abschiedsessen einlud, hatte ich ebenfalls ein Spiel als Mitbringsel dabei. Es trug, ebenfalls eine Anspielung, den Titel: «Les sept nains».
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Sticheln. Kartenspiel von Klaus Palesch für 3 bis 5 Personen ab 8 Jahren. Nürnberger Spielkartenverlag, ca. Fr. 15.– Diese Neuauflage ist ab November im Spielwarenhandel erhältlich.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung»