Der Spieler: In dieser Stadt wimmelt es von Mord und Totschlag
Selten war für mich so früh schon klar gewesen wie im vergangenen Jahr, welches Spiel ich den Familien meiner beiden Kinder mit ihren je drei Kindern zu Weihnachten schenken würde, und selten war ich mir so sicher, dass ich damit einen Volltreffer landen würde. Und so war es denn auch: In den Tagen nach Weihnachten las ich im Familien-Chat die Kommentare, alle begeistert von «Micro Macro Crime City».
Warum ich mir so sicher war? In erster Linie, weil «Micro Macro Crime City» auf einem Prinzip aufbaut, das Kinder und Erwachsene mögen. Wimmelbilder und -bücher sind überall beliebt. Stundenlang habe ich mit meinen beiden Kindern die grossformatigen Bücher und Bilder von Ali Mitgutsch betrachtet mit den liebevoll und mit allen Details gezeichneten Häusern und Dörfern, Städten, Häfen, Landschaften, Zoos und vielem anderem mehr. Wir haben uns die vielen Geschichten erzählt, die sich überall versteckten, und wir haben auf Teufel komm raus Rätsel gelöst und daraus kleine Wettbewerbe gemacht: Wer findet am schnellsten den Jungen mit der roten Mütze?
Ein riesiger Faltplan
Solche Erinnerungen werden beim Ausbreiten des Spielplans von «Crime City» wieder lebendig. «Ausbreiten» kann man wohl sagen, denn der Faltplan der Stadt, in der wir uns bewegen, ist riesig. 75 auf 110 Zentimeter misst er. Dafür benötigt man entsprechend Platz. Der schwarz-weiss gezeichnete Stadtplan ist so gross, dass man sich gar nicht erst die Zeit nimmt, um sich einen Überblick zu verschaffen. Man ist vielmehr überwältigt von der Menge der Details, den vielen kleinen Szenen, die den Eindruck vermitteln, «Crime City» sei eine äusserst belebte Stadt. Bei genauerem Hinschauen entdeckt man auch, mit welchem Witz Spielentwickler, Illustratoren und Designer bis zum kleinsten Detail am Werk waren. Es macht schlicht und einfach Spass, auf diesem Stadtplan «herumzuschneugge» und auf Entdeckungsreise zu gehen.
Was ist zu entdecken? In einer Ecke demonstrieren ein paar Dutzend Leute gegen eine geplante Fabrik. Das Setting erinnert mich an ähnliche Szenen im Miniatur-Wunderland in Hamburg. Andere stehen dichtgedrängt an den Ständen im Gemüsemarkt, am Burger-Stand oder an den zahlreichen Bushaltestellen. Ein Konzert hat so viele Besucherinnen und Besucher angelockt, dass ein corona-konformer Abstand eine Illusion ist. Die Fussgängerzone ist stark frequentiert, die Zahl der rollenden und parkierten Autos ist immens. Eher als Fremdkörper wirken die beiden Frauen, die hoch zu Pferd durch die Strassen ziehen.Unsere Stadt muss auch eine Stadt der Liebe sein, da man da und dort auf Paare trifft, die sich küssen und umarmen. Dass auch Blumensträusse überreicht werden, passt dazu. Solch ein Reichtum, man kann sich kaum sattsehen. Ein Fest fürs Auge!
Der Schein trügt
Oberflächlich betrachtet haben wir das Bild einer idyllischen Stadt vor uns. Doch der Schein trügt. Wir finden auch Szenen, die Konflikte und Gewalt andeuten. So verfolgen zwei knüppelschwingende Uniformierte einen davonrennenden Mann, eine andere Verfolgungsjagd zieht sich über mehrere Häuserdächer. Auf einem Parkplatz zwingen Polizisten einen Mann, aus seinem Auto auszusteigen. Zudem liegen Menschen am Boden, tot oder lebendig? Der Mann am Fuss des Hochhauses ist sicher tot, während man bei der leblos in einem Hinterhof liegenden Frau nicht ganz sicher ist. Sie könnte auch nur total betrunken sein, da ein leeres Bierglas neben ihr liegt.
So viele Leichen oder Beinahe-Leichen, alle ebenso lieblich gezeichnet wie zum Beispiel die Kinder, die miteinander auf einem Platz spielen – passt das zu unserer Stadt? Klar, denn wir befinden uns in «Crime City», in der es, wie der Name besagt, von Mord und Totschlag nur so wimmelt. Hier sollen wir uns als Ermittlerinnen oder Ermittler bewähren. In der Schachtel befindet sich Material für 16 Fälle (es ist damit zu rechnen, dass es Nachschub geben wird). Die Suche nach der Täterschaft verläuft immer nach demselben Schema: Auf der ersten Karte eines Falls wird die Ausgangslage beschrieben. Diese lautet im (unblutigen) Einführungsfall, mit dem die Mitspielenden in das Spielprinzip eingeführt werden sollen, wie folgt: «Fernando Bianca war auf dem Weg zu seiner Stammkneipe. Dort angekommen, bemerkte er, dass sein Zylinder verschwunden war! Die Kneipe befindet sich im Osten der Stadt, zwischen dem Neptunpark und dem Baumarkt.» Die erste Aufgabe besteht nun darin, die Kneipe zu finden. Dort angekommen, prüft man anhand der verdeckten Angaben auf der Aufgabenkarte, ob man am richtigen Ort ist. Wenn ja, geht es zur nächsten Herausforderung. Herr Bianca erinnert sich vor der Kneipe, dass er seinen Zylinder noch auf dem Kopf hatte, als er vor der Würstchenbude stand. Also auf zur Würstchenbude. Wenn sich Bianca richtig erinnerte, muss jemand seinen Zylinder geklaut haben, als er vom Imbissstand zur Kneipe lief. Aber wer? Dem guten Mann kann geholfen werden. Denn die Antwort finden wir auf dem Stadtplan. Und wo befinden sich die Hutdiebe jetzt?
Orte suchen und Geschehen rekonstruieren
Zur Lösung des Einführungsfalls benötigt man nur wenige Minuten. Mit der Zeit werden die Fälle immer schwieriger, und man ist nicht selten froh um die Hinweise, die man auf den Aufgabenkarten findet. Eine Herausforderung des Spiels «Crime City» besteht darin, dass wir nicht nur einzelne Orte suchen, sondern das Geschehen rekonstruieren müssen, also das, was vor der Tat bzw. nach der Tat passiert ist. Auf dem Stadtplan sind Ereignisse nebeneinander abgebildet, die sich nacheinander abgespielt haben. Wir haben es also mit der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem zu tun, einem faszinierenden Nebeneinander des Vorher und des Nachher. Nicht selten kommt es deshalb vor, dass wir bei der Lösung eines Falles auf Elemente stossen, die gar nicht mit dem aktuellen Fall zusammenhängen, sondern mit einem, mit dem wir uns erst später beschäftigen werden. Wir können nur auf ein gutes Gedächtnis hoffen, damit wir uns später daran erinnern.
Nicht vergessen dürfen wir, dass wir alle in «Crime City» eine Rolle spielen: Wir sind Ermittlerinnen und Ermittler, die eine kriminelle Handlung aufklären wollen. Wenn wir uns praktisch blind ins Bildgewimmel stürzen, haben wir kaum Chancen auf Erfolg. Besser kommen wir voran, wenn wir uns vorher überlegen, welches mögliche Abläufe oder Zusammenhänge sind, welche Puzzleteile zusammenpassen und welche Schlüsse wir aus den vorhandenen Indizien ziehen könnten. Echte Ermittlungsarbeit also, bei der kreative Kombinationsfähigkeiten gefordert sind.
Vier Augen sehen mehr als zwei
«Crime City» funktioniert zwar auch als Solo-Spiel hervorragend. Da aber vier Augen mehr sehen als nur zwei, bringt es zu zweit gespielt noch mehr, abgesehen davon, dass dabei der Spassfaktor um einiges höher ist. Von mehr Mitspielenden rate ich ab, weil man in diesem Fall den Stadtplan mit allen seinen Details vor lauter Köpfen nicht mehr sieht.
Der Einstieg in «Crime City» ist einfach, schwupp, und man ist drin. Wer es gerne ein wenig schwieriger mag, steigt nach ein paar Fällen auf die Profivariante um, bei der man sich auf die Beschreibung des Falles beschränkt und auf weitere Hinweise verzichtet. Da ist dann echt die Kunst des Kombinierens gefragt, die gute Ermittelnde auszeichnet. Die Altersangabe mit acht Jahren liegt an der unteren Grenze. Ich würde sie eher auf zehn Jahre ansetzen. Dann gibt auch die Frage, ob die Krimi-Thematik für Kinder geeignet sei, zu keinen Diskussionen mehr Anlass.
«Micro Macro Crime City» ist eben in Frankreich bei der Verleihung des As d’Or mit dem Titel «Spiel des Jahres» ausgezeichnet worden. Ich vermute, dass es wohl nicht bei dieser einen Auszeichnung bleiben wird. Denn das Spiel fesselt auf Anhieb, ist herausfordernd und bietet gleichzeitig beste Unterhaltung. Es ist auch ein tolles Beispiel dafür, dass es immer wieder Spiele gibt, die aufbauend auf einem bekannten Prinzip etwas völlig Neues machen. Das ist echte Innovation. Und viele fragen sich, warum sie selber nicht auf diese Idee gekommen sind …
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Micro Macro Crime City: Detektiv-Suchspiel von Johannes Sich für 1 bis 4 Spielerinnen und Spieler ab 10 Jahren. Verlag Spielwiese/Pegasus-Spiele, ca. Fr. 35.-
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker Synes Ernst war lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.
Super Spielbericht. Vielen Dank Herr Ernst, der Zeitpunkt könnte nicht besser passen, so habe ich am zMorgetisch mit meiner Frau das MicroCrime vom Spielcover gelöst und mir dann gleich das Spiel zum Geburtstag gewünscht.
Spielerische Grüsse
G.H.
Ich wünsche Ihnen viel Spass!