Glosse

Der Spieler: Heute Lokomotiven, morgen Fabriken

Synes Ernst ©

Synes Ernst. Der Spieler /  «Russian Railroads» ist ein Spiel der Superklasse. Der Bau der Transsibirischen Eisenbahn stellt eine echte Herausforderung dar.

Die Spieleszene befindet sich derzeit im Fieberzustand. Noch sind die Neuheiten, die Ende Oktober an den Internationalen Spieltagen in Essen präsentiert worden sind, nicht alle gespielt, wartet man bereits mit Spannung auf die Spielwarenmesse in Nürnberg, die am Mittwoch in einer Woche ihre Tore öffnet. Gibt es da noch neue Spiele, die jenen von Essen den Rang ablaufen können?

Was immer auch in Nürnberg vorgestellt werden wird, eines ist heute schon klar: «Russian Railroads» aus dem Münchner Verlag Hans im Glück wird den Spitzenplatz unter den bemerkenswertesten aktuellen Spielen behaupten, den es seit den Spieltagen in Essen belegt.

Falsche Erwartungen

Titel und Cover-Illustration lassen ein lupenreines Eisenbahnspiel erwarten, das Aufbau und Betrieb eines Streckennetzes simuliert. Doch wer das erwartet, dürfte beim Öffnen der 1,3 Kilogramm schweren, mit Material vollgestopften Verpackung enttäuscht sein. Denn eine Landkarte mit einem städteverbindenden Schienennetz – das Markenzeichen von Eisenbahnspielen wie etwa «Zug um Zug» oder «Dampfross» – sucht man in «Russian Railroads» vergebens. Hier muss man sich mit drei Strecken, die Moskau mit Wladiwostok, St. Petersburg und Kiew verbinden, zufrieden geben. «Russian Railroads» gehört denn auch weniger zur Gattung der Eisenbahnspiele als vielmehr zu jener der sogenannten Workerplacement-Spiele, die im Angebot der anspruchsvollen Spiele seit einigen Jahren einen zunehmend wichtigeren Platz einnehmen.

Was sind Workerplacement-Spiele? Der Spieler, der an der Reihe ist, setzt eine seiner Spielfiguren in ein bestimmtes Feld und führt dann die entsprechende Aktion aus. Pro Runde steht diese Aktion einzig dem Spieler zu, der seine Figur als erster auf das Feld gesetzt hat. Wer als erster am Zug ist, hat deshalb gewisse Vorteile, weil er unter mehr Aktionen auswählen kann. Weil aber die Spielerreihenfolge immer wieder ändert und die Aktionen selber sehr unterschiedlich sind, sind die meisten Workerplacement-Spiele trotz diesem Erstsetz-Bonus gut ausbalanciert.

So weit die Theorie. Tauchen wir aber sofort in die Praxis ein! Jeder von uns ist ein Ingenieur, der sich an dem vom russischen Zar Alexander ausgeschriebenen Projekt zum Bau der Transsibirischen Eisenbahn beteiligt. Wir sind zwar alle friedliche Menschen, aber unser beruflicher Ehrgeiz ist gewaltig, und jeder möchte der Beste sein und am Ende möglichst viele Siegpunkte auf seinem Konto haben. Wettbewerb ist also angesagt. Jeder geht nach seiner Geheimstrategie vor und achtet darauf, seine Kräfte ja nicht zu verzetteln. Der eine forciert den Ausbau des Schienennetzes und versucht möglichst rasch nach Wladiwostok, Kiew oder Petersburg zu gelangen. Das ist dann erfolgversprechend, wenn man höherwertige Schienenstücke einsetzt oder rasch auf Felder gelangt, die Extrapunkte abwerfen. Das eine Risiko dieser Strategie besteht darin, dass man nicht genügend schnell Platz für die wertvollen Geleise schaffen kann, das andere, dass man zu lange auf Lokomotiven warten muss, die über genügend Reichweite verfügen. Ein anderer Ingenieur schwört auf den Ausbau der Industrieinfrastruktur und investiert in Fabriken, bei denen er jeweils lukrative Aktionen auslösen kann. Damit holt er am Anfang des rund zweistündigen Spiels sehr viele Punkte, was vor allem für jene Teilnehmenden attraktiv ist, die es lieben, das Feld von der Spitze aus zu kontrollieren (zumindest bis zum Zeitpunkt, in dem sie von anderen überholt werden …).

Reihenfolge ist wichtig

Fünf Arbeiter (im Spiel zu Viert) hat jeder zu Beginn des Spiels zur Verfügung. Mit taktischem Geschick lässt sich diese Zahl erhöhen, was gleich mehr Aktionsmöglichkeiten pro Runde bietet. Sämtliche Aktionen sind als Felder auf dem Spielplan abgebildet, der in der Mitte des Tisches liegt. Will Blau nun beispielsweise mit dem schwarzen Gleis auf der Strecke Moskau-Wladiwostok drei Schritte vorrücken, so setzt er zwei Arbeiter auf das entsprechende Aktionsfeld. Dieses Feld (und damit diese Aktion) ist in dieser Runde nun für alle anderen Mitspielenden gesperrt. Statt in Streckenbau zu investieren, könnte man auch seine Arbeiter verwenden, um Lokomotiven und Fabriken zu erstellen oder die Industrialisierung voranzutreiben. Fehlt einem ein Arbeiter, so darf man an seiner Stelle auch eine Münze einsetzen, sofern man eine hat.

Wichtig ist auch die Spielerreihenfolge. Wie in anderen Workerplacement-Spielen gibt es in «Russian Railroads» keine direkte Auseinandersetzung unter den Mitspielenden. Niemand muss fürchten, rausgeschmissen zu werden. Aber alle suchen die Aktion, die ihnen im Moment die beste scheint. Wer als Erster an der Reihe ist, hat die besten Chancen, da er noch unter allen Aktionsmöglichkeiten frei wählen kann. Der Vierte muss dann oft zusehen, dass ihm das beste Stück vor der Nase weggeschnappt wird. Um das zu verhindern, lohnt es sich jedenfalls, einen Arbeiter zu «opfern».

Eine besondere Rolle spielen die Ingenieure – ein schöner Einfall, Zusatzfelder auf diese Art zu tarnen und zu personalisieren. Einen der drei pro Runde offen aufliegenden Ingenieure kann man sich gar gegen eine Münze kaufen und hat dann ein geschütztes privates Aktionsfeld, das man in jeder Runde nutzen kann. Von dieser Möglichkeit muss man unbedingt mehrmals Gebrauch machen, will man in «Russian Railroads» ernsthaft um den Sieg kämpfen.

Ein Spiel der Superklasse

Aus der Besprechung geht hervor, dass «Russian Railroads» ein sehr komplexes Spiel ist. Es ist auch nicht für Gelegenheitsspieler gedacht, da die Einstiegshürde hoch ist. Hat man diese aber geschafft, bekommt man relativ rasch ein Gefühl für den Ablauf. Dieser ist in der 24-seitigen Spielanleitung hervorragend erklärt.

«Russian Railroads» ist ein Spiel der Superklasse. Es hat mich mit seinen vielen strategischen und taktischen Optionen richtig gepackt. Noch habe ich nicht herausgefunden, welches die besten Möglichkeiten sind. Es führen die verschiedensten (Schienen-)Wege zum Erfolg. Alle aber sind mit Unwägbarkeiten und Risiken verbunden. Dauernd ist man gefordert, so dass die zwei Stunden im Nu vorbei sind. Bei jeder Partie gibt es Situationen, in denen ich sage, jetzt entscheide ich so, das nächste Mal aber probiere ich eine alternative Möglichkeit aus. Heute Lokomotiven, morgen Fabriken. Als Vollblutspieler liebe ich solche Vorlagen, bei denen ich so richtig in das Geschehen eintauchen und dieses nach meinen Vorstellungen und mit meinen Ressourcen gestalten kann.


«Russian Railroads»: Strategisch-taktisches Gesellschaftsspiel von Helmut Ohley und Leonhard Orgler für zwei bis vier Spielerinnen und Spieler ab 12 Jahren. Verlag Hans im Glück (Vertrieb Schweiz: Carletto AG, Wädenswil). Spieldauer: rund 120 Minuten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».

Zum Infosperber-Dossier:

Synes_Ernst 2

Der Spieler: Alle Beiträge

Spielen macht Spass. Und man lernt so vieles. Ohne Zwang. Einfach so.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

Eine Meinung zu

  • am 18.01.2014 um 12:45 Uhr
    Permalink

    Wie soll man Spiele gemäss Qualität rangieren? Für mich ist das mit Abstand beste Spiel Go, weit VOR dem Schach. Auch sehr weit vorne einrangieren würde ich das rubikwürfelähnliche MagicTile von Nelson.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...