Der Spieler: Gutes Schafkopfen gegen böse Computer
Facebook-Nutzer Uli Jahn enerviert sich: „So ein absoluter Quatsch – Entschuldigung! (…) Ich habe eine Tochter in der 7. Klasse Gymnasium; die hat wahrlich anderes auszubaden, was Politiker vergeigt haben. Schafkopfen braucht die nicht! Soll sie auch noch Schnupftabak verwenden. OMG – ich dachte immer, diesen Mist lese ich nur im Sommerloch.“ Was Jahn in Rage gebracht hat, ist eine Pressemitteilung, die der Bayerische Philologenverband (BPV) in der nachrichtenarmen Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr über die Deutsche Presse-Agentur dpa verbreitet hat. Darin heisst es: „In Zeiten der globalisierten Welt gibt es eine Rückbesinnung auf Heimat und Tradition, dazu zählten auch Spiele wie Schafkopf. Nicht zuletzt ist es in ganz Bayern verbreitet, verbindet also Franken, Schwaben und Altbayern in Form eines Spiels und ist somit Abbild der Vielfalt und Einheit Bayerns.“
Hoher Bildungsgehalt
Den Schülerinnen und Schülern fehle es an Schafkopf-Kompetenz, beklagt sich Michael Schwägerl, Vorsitzender des Verbands, der die Interessen der Lehrkräfte an Gymnasien und Berufsschulen vertritt. Weil in den Familien das Spiel nicht mehr gespielt und damit gelernt werde, müsse die Schule einspringen. Schwägerl: „Viele halten das Thema vielleicht für nicht gymnasial, aber genau das Gegenteil ist der Fall: Wir wünschen uns, dass das Kartenspiel gerade in digitalen Zeiten wieder mehr an Bedeutung gewinnt, auch in der Schule.“ Eine App auf dem Smartphone könne das Spiel mit dem echten Gegenüber nicht ersetzen, denn der Reiz des Spiels liege nicht zuletzt in der Interaktion der Spielenden untereinander. Um seine Forderung wissenschaftlich zu untermauern, zitiert der Verband den Augsburger Schulpädagogen Klaus Zierer, der dem Spiel einen Bildungsgehalt attestiert, den man nicht hoch genug einschätzen könne. Das Spiel erfordere neben einfachen mathematischen Kompetenzen auch strategische, soziale, emotionale und sogar existenzielle Intelligenz und sei nicht zuletzt Träger von Werten und Normen, von Geschichte und Kultur. Die Organisation eines Schafkopf-Turniers wäre nach Zierer für den Stundenplan eine Möglichkeit: „Dem Bildungs- und Erziehungsauftrag wird dabei in einem umfassenden Sinn nachgekommen.“
Für seinen nachweihnachtlichen Vorschlag hat der Philologenverband den Segen der obersten politischen Bildungsinstanz des Freistaates Bayern. Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) sagte gemäss dpa: „Ich freue mich, wenn Schafkopf und andere bayerische Kartenspiele einen Platz im Schulleben haben.“ Zum Jubelchor gesellte sich auch Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Dem Bayerischen Rundfunk sagte er (zitiert nach FAZ.net): „Ich freue mich immer, wenn Jugendliche in den Pausen nicht am Handy rumdaddeln oder Hausaufgaben abschreiben, sondern sich miteinander beschäftigen. Das Schafkopfen kann da viel Freude bereiten und hat eine lange Tradition in Bayern.“
Gewaltiger Schritt nach vorne
Es hagelte aber auch Kritik. Medienspezialist Matthias J. Lange („Redaktion42“) kommentierte in seinem Blog: „So ist richtig: Mit analogem Kartenspiel der digitalen Herausforderung entgegentreten. Wir sind sowieso im hinteren Mittelfeld der digitalen Entwicklung, da bringt uns das Kartenspiel einen gewaltigen Schritt voran. Wir karteln einfach unsere Mitbewerber unter den Tisch. China, USA, Indien und andere, passt jetzt auf und seid bereit, wenn bayerische euch nicht in MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, Anm. SE) oder schnöden Programmieren und Hacken schlagen, sondern wenn wir beim Kartenspielen die Hosen ausziehen. Super – Ironie aus.“
Mediendidaktiker Axel Krommer wirft dem Philologenverband vor, er romantisiere die gute alte Zeit, als die Schüler noch Bücher gelesen hätten und „auf dem Schulhof laut herumgetollt“ seien. Aus diesem paradiesischen Zustand seien sie durch „Mahlstrom des Internets, dieser Schein- und Parallelwelt“, vertrieben worden. Auf diese Entwicklung antworte man jetzt mit einer „pädagogischen Beruhigungsoffensive“, welche die digitalen Medien mit ihren Werkzeugen nur als Dienerin der Pädagogik sehe und ihnen einen legitimen Platz im Unterricht verwehre. „Anstatt konstruktiv darüber nachzudenken, wie (oder: ob!) die Schule integraler Bestandteil der Kultur der Digitalität werden kann“, fordere der Verband „wider die lästige Digitalisierung mit dem Schafkopf ein analoges Zeichen zu setzen“.
Auch Tabakschnupfen und Wildern
EduNet, eine Organisation von Fachleuten, die sich für digitale Bildung engagieren, nimmt den Philologenverband mit der Bemerkung „Make Schafkopf Great Again“ aufs Korn. Mit ebenso gutem Recht könne man fordern, „Tabakschnupfen, Fingerhakeln, Goasslschnalzen und Wildern“ gehörten in die Schule, denn auch dies alles werde „nur noch sehr sporadisch in bayerischen Familien betrieben“. Wenn sich Gesellschaft und Kultur verändern, nütze weder „Jammern und Beschwören“ noch helfe das „Einigeln im Gestern“. Betrachte man den expliziten Auftrag der Schule, „bei der Persönlichkeitsbildung der Schülerinnen und Schüler mitzuarbeiten, diese auf Studium und Beruf vorzubereiten und zu mündigen Mitgliedern unserer Gesellschaft zu bilden“, so könne man sicher sein, „dass für diese verbindlichen Ziele das Schafkopfen keinen Platz auf den vorderen Rängen einnehmen wird“.
Dass die Diskussion entlang der Grenze zwischen den Hütern der Tradition auf der einen und den Verfechtern einer offenen digitalen Bildung auf der anderen Seite verlaufen würde, kommt nicht überraschend. Die entsprechenden Gräben sind in der Gesellschaft, nicht nur der bayerischen, tief und unübersehbar. Die Konzentration auf die beiden Pole verstellt allerdings den Blick auf einen anderen wichtigen Aspekt – die generelle Bedeutung des Spiels und des Spielens in der Schule.
Schon oft habe ich in dieser Rubrik auf die Potenziale hingewiesen, die in jedem Spiel stecken und die geeignet sind, bei den Spielenden Fähigkeiten zu fordern und gleichzeitig zu fördern. Im Spiel
- setzen wir uns direkt mit andern Menschen auseinander, egal welchen Geschlechts, Alters und welcher Herkunft,
- kommunizieren wir untereinander,
- arbeiten wir im Team zusammen,
- planen wir mit Blick auf unser Ziel unser Handeln,
- wägen wir Risiken ab,
- müssen wir uns konzentrieren,
- übernehmen wir Verantwortung für unsere Entscheide,
- lernen wir, Regeln einzuhalten und mit unseren Emotionen umzugehen, und schliesslich
- erfahren wir die Welt des Spiels als Ort dauernder Veränderung.
Wie kann man diese Potenziale in und für die Schule nutzen? Darüber müsste man diskutieren. Jedenfalls wäre eine solche Debatte sinnvoller als eine ideologisch aufgeladene Auseinandersetzung um die Pflege bayerischer Werte mit Schafkopfen in der Schule.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.