Glosse
Der Spieler: Geheimagenten unter uns
Wir befinden uns in einem Krankenhaus. Wir, das sind acht Personen. Uns ist von der Klinikleitung mitgeteilt worden, dass sich in unserer Gruppe ein Geheimagent eingeschlichen hat. Deswegen sei höchste Vorsicht geboten, besonders in den Pausengesprächen. Allerdings stehe der geheimnisvolle Unbekannte noch am Anfang seiner Karriere, im Training quasi, weshalb er von seinem Führungsstab einen aus Laiensicht einfachen Auftrag erhalten habe: «Finde heraus, wo genau sich die Gruppe befindet! Du hast dafür höchstens acht Minuten Zeit.»
Ich bin Internist
Wir sind also gewarnt. Einer von uns ein Geheimagent? Doch wer? Ich selber bin Internist. Als wir zusammenkamen, hatte man mir verdeckt eine Karte überreicht, auf der diese Bezeichnung stand. Ich bin der Einzige, der meine Identität kennt. Doch was ist die Person, die neben mir sitzt? Patient? Chirurg? Pathologe? Nein, der sieht aus wie ein Pfleger. Die jüngere Frau oben am Tisch könnte Krankenschwester sein, oder vielleicht gar Assistenzärztin? Aber wer ist der Mister X, den wir – so die Klinikleitung – enttarnen müssen. Dafür haben wir ebenfalls acht Minuten Zeit. Auf die Plätze, fertig, los!
Wir spielen «Agent Undercover», das aus Russland stammende, diesen Herbst im österreichischen Verlag Piatnik erschienene Kommunikationsspiel. Der Gattungsbegriff deutet an, dass die Kommunikation unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern das zentrale spielbildende Element darstellt. Hier die verbale Kommunikation. Wer Sprache und Worte nicht mag, wird an «Agent Cover» nicht viel Spass haben, selbst wenn das Spiel schnell erklärt und sein Ablauf auch für Wenigspieler leicht verständlich ist.
Zurück zu unserer Spital-Runde. Da sitzen wir also um einen Tisch und müssen möglichst rasch herausfinden, wer unter uns der Geheimagent ist, und zwar, bevor dieser den Ort genannt hat, an dem sich unsere Gruppe befindet. Dazu stellen wir einander Fragen, was zwar ganz einfach klingt, in Wirklichkeit aber eine echte Herausforderung darstellt. Die Fragen müssen nämlich so formuliert werden, dass sie nichts über die Identität der Fragestellenden verraten. Alle ausser dem Geheimagenten vermeiden in ihren Fragen peinlichst Angaben, aus denen der Agent schliessen könnte, dass es beim gesuchten Ort um eine Klinik handeln muss. Lautet die Frage beispielsweise «Wie viele Betten hast Du in Deiner Abteilung?» führt den Geheimagenten subito auf die Spital-Spur. Diese und ähnliche Fragen führen die Gruppe rasch und unweigerlich in die Niederlage bzw. den geheimnisvollen Unbekannten zum schnellen Sieg.
Umgekehrt muss Mister X höllisch aufpassen, dass er mit seinen Aussagen nicht preisgibt, dass er in Wirklichkeit keine Ahnung davon hat, wo er sich befindet. Wird er mit der Frage konfrontiert, was er um sich herum sehe, darf er unter keinen Umständen antworten: «Einen wunderbaren Sonnenuntergang.» Damit wäre nämlich klar, dass er den Ort nicht kennt, wo sich die Gruppe gerade aufhält. Und da dies nur für den Geheimagenten zutrifft, wäre es ein Leichtes, ihn rasch zu enttarnen. Eine Antwort wie «eine ganze Reihe von erwachsenen Menschen» wäre in diesem Fall unverfänglicher. Eine noch grösserere Stolperfalle als die Antworten stellen für den Geheimagenten die Fragen dar: «Ist der Lärmpegel bei Dir sehr hoch»? deutet zweifellos darauf hin, dass der Geheimagent nicht weiss, dass er sich in einem Krankenhaus befindet, wo Ruhe zum Wohl der Patienten oberstes Gebot ist. Folglich ist eine solche Frage Tabu. Weniger verräterisch wäre etwa: «Wie lange kann sich der neue YB-Trainer nach fünf sieglosen Spielen noch halten?» Der Fragesteller hätte sich wohl als YB-Frustrierter geoutet, nicht aber als Geheimagent …
Alles ist erlaubt
Mit anderen Worten: Man darf fragen, was man will. Es gilt im Interesse des Spiels nur eine einzige Einschränkung: Man darf nicht verraten, wer man ist. Wie alle Freiheiten dieser Welt ist auch die Freiheit des Fragens in «Agent Undercover» auf bestimmte Art und Weise begrenzt. Eine Grenze setzt zum Beispiel die Zeit: Nach dem Ablauf von acht Minuten ist eine Runde beendet, und die Gruppe muss sagen, wer der Geheimagent ist. Das Frage- und Antwort-Spiel darf nicht einfach planlos dahinplätschern, sondern hat ein klares Ziel – die Enttarnung. Zeitlichen Druck macht auch die allen zur Verfügung stehende Möglichkeit, das Spiel jederzeit zu unterbrechen, um den Agenten bzw. den Ort zu enttarnen. Wer dabei Erfolg hat, gewinnt nämlich zusätzliche Siegpunkte, was dazu führt, dass von dieser Möglichkeit recht oft Gebrauch gemacht wird. Es zeigt sich einmal mehr, dass der Wettbewerbsgedanke einem grundsätzlich kooperativen Spiel mehr Spannung verleiht.
Eine echte Trouvaille
Die Gruppen können sich an insgesamt 25 Schauplätzen aufhalten. Das reicht vom Kreuzfahrtschiff bis zur Firmenfeier, von einer Werkstatt bis zum Hotel, vom Zirkus bis zum Einkaufszentrum und zur Universität. Diese Vielzahl öffnet fast unendliche Möglichkeiten für die Teilnehmenden, sich Szenarien und die dazugehörigen Fragen und Antworten auszudenken. Wer die schwierige Rolle des Geheimagenten zugeteilt erhält, bekommt auch Unterstützung: Auf einer Doppelseite in der Mitte des Regelheftes sind alle in Frage kommenden Schauplätze abgebildet. Man tut allerdings gut daran, sich schon vor Beginn des Spiels einen Überblick zu verschaffen. Wer nämlich im Verlauf des Spiels zum Regelheft greift, dürfte mit höchster Wahrscheinlichkeit der Agent sein, der voller Verzweiflung Anhaltspunkte und Hinweise sucht.
«Agent Undercover» stellt auch für Menschen, die sich zur Gattung der «Wortspieler» zählen, eine echte Herausforderung dar. Ich mag das, und deshalb mag ich dieses neue Kommunikationsspiel. Es hat mir auf Anhieb gefallen. Bereits beim ersten Spiel wird deutlich, welches Potenzial in ihm steckt. Davon gibt es nach und nach ein Stück preis. Und je mehr man «Agent Undercover» spielt, desto fintenreicher, lustiger und spannender erlebt man das Spiel. Eine tolle Trouvaille unter den vielen Herbstneuheiten 2015.
—-
Agent Undercover: Kommunikationsspiel von Alexander Ushan für 3 (besser: 5) bis 8 Spielerinnen und Spieler ab 12 Jahren. Verlag Piatnik (Vertrieb Schweiz: Carletto AG, Wädenswil), ca. Fr. 20.-
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».