Der Spieler: Eine Reise durch die Welt der Kartenspiele
Datiert ist der Artikel, von dem ich dieser Tage beim Aufräumen eine Kopie gefunden habe, vom Juli 1995. Leider fehlt ein Hinweis auf den Titel der Publikation, in der David Parlett ein neues Zweipersonen-Kartenspiel «Galloping Galapagos» vorstellte. Doch der Name des Autors legt die Vermutung nahe, dass es sich um die englische Zeitschrift «Games & Puzzles» handelt. Denn Parlett, dem wir mit «Hase und Igel» das erste «Spiel des Jahres» sowie einige spannende Kartenspiele verdanken, gehörte zu den prägenden Köpfen der Publikation, die ab 1970 in der europäischen Spieleszene stilbildend wirkte und namentlich in Deutschland viele neidisch auf die angelsächsische Spielkultur blicken liess. Leider gibt es die Zeitschrift nicht mehr, doch das ist eine andere Geschichte.
Wie es beim Aufräumen so ist, gewisse Dinge schmeisst man ohne Zögern weg, bei andern bleibt man hängen und beginnt zu lesen. So auch hier. Warum ich den Text vor 26 Jahren weggelegt und irgendeinmal kopiert hatte, wurde mir rasch klar: Ich hatte bei der Lektüre den Eindruck gewonnen, dass es sich bei «Galloping Galapagos» um ein faszinierendes Kartenspiel handeln musste, das ich später (nach der Pensionierung also …), ausprobieren würde, um zu schauen, ob das Spiel das hergab, was die Beschreibung versprochen hatte. Nun, ich bin bis heute nicht dazu gekommen.
Erneut gefesselt
Also setze ich mich hin, beginne zu lesen und schon fesselt mich der Text erneut. «Galloping Galapagos» muss ein tolles Spiel sein, so mein Eindruck auch jetzt. Mein besonderes Interesse weckt, wie der Autor verschiedenste Elemente aus der riesigen Welt der Kartenspiele und damit unterschiedliche taktische Herausforderungen miteinander zu einem völlig neuen Spiel verknüpft.
Müsste man «Galloping Galapagos» genauer definieren, so würde man es am ehesten als eine Kombination von Biet-, Stich- und Ablegespiel bezeichnen. Wie diese zustande gekommen ist, zeigt Parlett in seinem «Games & Puzzles»-Text, den er nicht als trockene Spielanleitung verfasst hat, sondern vielmehr als spannenden Werkstattbericht, als Geschichte des «Making of» und als Einladung an die Leserin oder den Leser, das Universum der Kartenspiele doch gleich selbst zu erkunden.
Idealer Reiseführer
Dabei erweist sich Parlett als idealer Reiseführer. Denn für jede der Phasen seines Spiels sagt er, welches ihre Grundlagen sind. Der Name «Galloping Galapagos» habe im übrigen nichts zu tun mit Schildkröten oder den berühmten Inseln im Pazifischen Ozean. Vielmehr wolle er damit darauf hinweisen, dass das Spiel ursprünglich eine Erweiterung des Spiels «Gops» gedacht gewesen sei. Auf verschiedenen Umwegen sei daraus «Galapagos» geworden. Unter diesem Titel findet man die Spielregeln heute auf Parletts Webseite.
«Gops» bezieht sich auf die erste von drei Phasen, bei der es darum geht, durch geschicktes Bieten eine Hand von 13 Karten zusammenzustellen, die man dann in der zweiten Phase benötigt, der Stichphase. Doch was bedeutet «Gops»? Obwohl ich oft in Büchern über Kartenspiele schmökere, musste ich passen. Meine Neugier ist geweckt und schon bald finde ich heraus, das «Gops», auch bekannt unter «Goofspiel», die Abkürzung ist für «Game of Pure Strategy». Wie spannend und herausfordernd dieses Zweipersonen-Kartenspiel trotz seiner simpel-einfachen Regeln ist, kann man rasch selber mit der entsprechenden App auf dem Handy ausprobieren (Vorsicht Suchtgefahr!). «Gops», auch Forschungsgegenstand in der Spieltheorie und der Künstlichen Intelligenz, gehört wiederum zur grossen Casino- bzw. Cassino-Familie, deren Ursprung bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht. Ihr wohl bekanntester Vertreter ist das heute noch in Italien weit verbreitete «Scopone».
Kleine Finessen
Doch zurück zu unserem «Galapagos»: Parlett wäre nicht Parlett, würde er das einfache «Gops»-Bietsystem nicht um eine kleine Finesse bereichern, welche das Gambler-Herz höher schlagen lässt. Der Gewinner der Wette darf nämlich immer entscheiden, ob er die offenliegende Karte, um die man mit dem Ablegen einer seiner Handkarten gewettet hat, zu sich nehmen oder seinem Konkurrenten überlassen will. In diesem Fall muss er stattdessen die nächste Karte, die verdeckt auf dem Stapel liegt, zu sich nehmen. Da stecken Risiken drin und folglich auch Emotionen, wenn sich herausstellt, dass das eigene Set von Karten, das man in der Bietphase mit Blick auf die nachfolgende Stichphase zusammengestellt hat, sich als schwächer erweist als jenes des Gegners.
Finessen gibt es auch in der zweiten Phase von «Galapagos»: Parlett will nicht, dass wir einfach Stiche machen, sondern belohnt die Spielerin, welche die ungeraden Stiche (1, 3, 5 usw.) für sich erobert hat. In diesem Fall ist jeder gewonnene Stich zehn Punkte wert, sonst nur fünf. Wer traditionelle Stichspiele kennt, wie etwa Jassen, stellt schnell einmal fest, dass er sich hier taktisch ganz anders verhalten muss, wenn er seinen Gegner schlagen will. Kommt hinzu, dass die Spieler immer bis zu einem bestimmten Grad wissen, welche Karten ihr Gegenüber in der Hand hat. Das gilt auch für die dritte, die Ablegephase, die mit den Karten gespielt wird, die man in der ersten zum Bieten verwendet hat. Für diesen dritten Teil von «Galapagos» hat sich Parlett an Spielen wie «Das grosse und das kleine A», «Arschlochspiel» oder «Präsident» orientiert, die alle zu einer Familie von Kartenspielen gehören, die sich grösster Beliebtheit erfreuen, wie etwa das Kultspiel «Tichu» beweist.
Kobolde, Ritter und Trolle
Bei der Lektüre von Parletts Text erinnere ich mich, dass ich vor ein paar Jahren ein Zweipersonen-Kartenspiel namens «Claim» kennen gelernt habe. Während «Galapagos» als abstraktes Kartenspiel daherkommt und mit einem gewöhnlichen Set von 52 französischen Karten gespielt werden kann, wartet «Claim» mit einer Geschichte auf. In dieser geht es um die Nachfolge eines in einem Weinfass ertrunkenen Königs. Wer ihm auf dem Thron nachrücken will, muss mit seinen Anhängern, die erst noch zu rekrutieren sind, die Gunst von fünf Fraktionen gewinnen.
Hinter dieser Geschichte verbergen sich die dieselben Mechanismen, auf denen Parlett sein «Galloping Galapagos» aufgebaut hat: Dem Rekrutieren von Anhängern in «Claim» entspricht die Bietphase von «Galapagos», dem Kampf um die Gunst der Fraktionen die Stichphase.
Ich finde es immer wieder faszinierend zu beobachten, wie vielfältig ein Prinzip, in unserem Fall «Gops», weiterentwickelt wird. «Galloping Galapagos» besticht durch die enge Verknüpfung von drei verschiedenen Kartenspielgattungen zu einem einzigen Spiel mit hohen taktischen Ansprüchen. «Claim» hingegen bleibt näher am Grundprinzip, misst dafür der Wertigkeit (bzw. Fähigkeit) der Karten eine grössere Bedeutung zu. Kobolde, Ritter, Zwerge, Gnomen und Trolle bringen zudem mehr Atmosphäre ins Spiel als Herz, Ecken, Kreuz und Schaufeln, was aber über die Qualität der beiden Spiele nichts aussagt. Beide sind es wert, dass man sie näher anschaut und sich von ihnen zu einer Reise durch die faszinierende Welt der Kartenspiele verführen lässt.
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Claim: Taktisches Kartenspiel von Scott Almes für zwei Personen ab zehn Jahren. Verlag Game Factory, Fr. 12.- (Es gibt zwei Ausgaben, die je einzeln gespielt oder auch zusammen zu einem Spiel für bis zu vier Personen kombiniert werden können.)
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker Synes Ernst war lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.