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Spiel-Experte Synes Ernst © cc

Der Spieler: Die Kuchenregel – teilen oder wählen

Synes Ernst. Der Spieler /  Die einfache Kuchenregel sorgt in Spielen für Gerechtigkeit. Drei Beispiele: «Dynasties», «Animals on Board» und «Jolly & Roger».

Wer hat die Kuchenregel erfunden? Ich bin fast sicher, dass es eine völlig entnervte Mutter gewesen ist, die genug davon hatte, dass sich ihre beiden Kinder beim Teilen eines Kuchens immer stritten. «Immer bekommt mein Bruder das grössere Stück, das ist doch ungerecht», und schon geht das Geheul los. Dabei hätte die Süssigkeit für eine gegenteilige Stimmung sorgen sollen … Die Mutter kam nun auf die pfiffige Idee, dass fortan eines der Kinder den Kuchen in zwei Stücke schneiden würde, während sich das andere als erstes sein Stück aussuchen dürfte – die Kuchenregel war geboren, der Familienfriede gerettet.

Doch nicht nur beim Kuchenteilen unter Kindern stellt sich das Problem der Gerechtigkeit. Es gibt es auch im Spiel, nämlich dort, wo der Spieler, der den ersten Zug machen darf, deutliche Vorteile hat. Besonders krass wirkt sich das aus, wenn die Eröffnung einer Partie für den Spielverlauf ausschlaggebend ist. So etwa beim Zweierspiel «Twixt», bei dem es gilt, nach Spielbeginn möglichst rasch möglichst grosse Gebiete zu kontrollieren. Wer da als Erster an der Reihe ist und klug setzt, ist praktisch nicht mehr zu schlagen. Ein höchst unausgewogenes Spiel, um das man besser einen Bogen machen sollte? Fehlanzeige. «Twixt» ist ein höchst anspruchsvolles Taktikspiel – nicht zuletzt dank der Kuchenregel, die «Twixt»-Autor Alexander Randolph erstmals so in einem Spiel umgesetzt hat. In der Spielanleitung heisst es explizit dazu: «Die Kuchenregel gilt nur bei der Eröffnung. Ein Spieler setzt einen ersten weissen Pfeiler in ein beliebiges Loch des Spielfelds. Der Gegner hat dann die Wahl, mit welcher Farbe er spielen will. Damit ist der Vorteil des ersten Zugs ausgeglichen (Wie jedes Kind weiss, gibt es nur eine gerechte Methode, einen Kuchen zu teilen. Der eine schneidet, der andere wählt).»

Drei aktuelle Beispiele

Ich teile, du suchst aus: Wie stark dieses so geniale wie einfache Prinzip ist, kann man in drei aktuellen Spielen erleben, die sich an unterschiedliche Zielgruppen richten. Für Spielerinnen und Spieler, die über grosse Spielerfahrung verfügen, das Studium längerer Regeln nicht scheuen und bereit sind, 90 Minuten lang in eine komplexe Spielwelt einzutauchen, ist «Dynasties» von Matthias Cramer gedacht. Auf Familienspiel-Niveau lässt sich die Geschichte von Noah und seiner Arche in «Animals on Board» von Ralf zur Linde und Wolfgang Sentker nacherleben. «Jolly & Roger» von Shaun Graham und Scott Huntington ist schliesslich ein als Seeräuber-Spiel getarntes Taktikspiel für zwei Personen.

Das Spielgeschehen von «Dynasties» lässt sich mit der Kurzformel «Handle, Heirate und Herrsche» zusammenfassen. Die Mitspielenden verkörpern im Europa der Renaissance Fürstenhäuser, die ihren Einflussbereich vergrössern wollen. Mit diplomatischem Geschick betreiben sie miteinander Handel und versuchen, ihre Familienmitglieder möglichst gut zu platzieren und zu verheiraten. Weil sich die Fürsten und ihre Berater bewusst sind, dass sich zu offen präsentierter Egoismus nicht auszahlt, haben sie sich auf einen Modus Vivendi geeinigt: das brüderliche Teilen. Sichtbar wird dies durch die Kuchenregel, die hier zweimal zum Zug kommt: Erstens beim Handel mit Waren, zweitens beim Heiraten, wo die Mitgift nach dem Prinzip der Kuchenteilung vergeben wird. Mit der Kuchenregel kommt sehr viel Interaktion in «Dynasties». Komplexe Spiele dieser Art laufen oft Gefahr, dass Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihren Part gemäss Spielanleitung abarbeiten, fleissig, aber ohne feu sacré. «Dynasties» hingegen weckt Emotionen, weil ich jedes Mal mitfiebere, ob ich nun zu den Waren oder zu der Mitgift komme, wie ich es mir beim Teilen vorgestellt habe. Spiele, die diese Dynamik bieten, gefallen mir.

Dilemma über Dilemma

Das gilt auch für «Animals on Board». Das Spiel lehnt sich thematisch an die Noah-Geschichte aus dem Alten Testament an, persifliert sie allerdings ein wenig. Weil Noah die Tierpaare auf seiner Arche haben will, ist es den Mitspielenden verboten, Pärchen an Bord zu holen. Nur Einzeltiere oder aber grössere Gruppen dürfen es sein. Warum das so ist? Keine Ahnung, bisweilen kommen Verlage und Redaktionen bei der Verpackung ihrer Spielideen auf seltsame Ideen. Nun, weil die Spielregeln absolut sind, hält man sich daran und versucht, die Kamele, Bären, Elefanten und alles, was da kriecht und fliegt, möglichst punktebringend auf seiner Arche zu platzieren. Das geschieht wiederum nach der Kuchenregel: Teilen oder nehmen. Besonders aufpassen muss man, dass man am Ende einer Runde nicht doch noch Paare auf seiner Arche hat. Die muss man nämlich an Noah abgeben und fallen aus der Zählung. Entscheidend in «Animals on Board» ist also, dass man die richtige Tiergruppe zum richtigen Zeitpunkt erwischt.

Eine besondere Art, ihren neuen Boss zu bestimmen, kennen offenbar die Piraten – das so genannte Doppelentern. Dabei versuchen die beiden zuletzt übrig gebliebenen Anwärter mit ihren Mannschaften Handelsschiffe zu entern. Den Titel des Piratenkönigs bekommt, wem es gelingt, dank stärkerer Crew das meiste Gold zu erbeuten. Das ist der Hintergrund von «Jolly & Roger». Hier wird die Kuchenregel in ihrer reinsten Form angewendet: Ein Spieler ist der so genannte Aufteiler, der die jeweils zur Verfügung stehenden Personenkarten in zwei Sets aufteilt. Dann kommt der Auswähler zum Zug und darf als erster die Piraten auswählen, mit denen er seine Crew verstärken möchte. Das ist der Kern dieses taktischen Zweierspiels. Weil die Kuchenregel, wie gesagt, in ihrer reinsten Form angewendet wird, schlägt ihr Potenzial auch direkt durch. Dilemma über Dilemma, und das jedes Mal, wenn ich an der Reihe bin. In einem Zweierspiel, wo es praktisch eh keine Warte- oder Ausruhphasen gibt, folgt die emotionale Herausforderung Schlag auf Schlag. «Jolly & Roger» zeichnet sich deshalb durch eine hohe Intensität aus. Solche Spiele behält man immer in bester Erinnerung.

Erstaunlich, wie eine kleine Regel für gute Spielerlebnisse sorgt. Hat nicht noch eine andere Mutter eine andere Idee, die sich ähnlich entwickeln liesse wie die Kuchenregel?


Dynasties: Aufbau- und Handelsspiel von Matthias Cramer für 3 bis 5 Spielerinnen und Spieler ab 12 Jahren. Verlag Hans im Glück (Vertrieb Schweiz: Carletto AG, Wädenswil), ca. Fr. 60.–

Animals on Board: Taktisches Sammelspiel von Ralf zur Linde und Wolfgang Sentker für 2 bis 4 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Pegasus Spiele (Vertrieb Schweiz: Fata Morgana, Bern), ca. Fr. 20.–

Jolly & Roger: Taktisches Legespiel von Shaun Graham und Scott Huntington für zwei Personen ab 8 Jahren. Abacus Spiele (Vertrieb Schweiz: Carletto AG, Wädenswil), ca. Fr. 18.–


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied.

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2 Meinungen

  • am 29.03.2017 um 11:35 Uhr
    Permalink

    Was ist neu an dieser Regel? Ich bin 80 Jahre alt und meine Mutter hat schon damals mit dieser Regel und 4 Kinder das Teilen gelehrt.

  • Synes_Ernst 2
    am 30.03.2017 um 14:12 Uhr
    Permalink

    Das stimmt. Die Kuchenregel ist vermutlich sehr alt. Im Bereich des Spiels ist sie jedoch relativ neu: Der amerikanische Spielerfinder Alex Randolph hat sie 1957 in seinem Spiel «Twixt» zum ersten Mal verwendet. Vermutlich kannte er die Regel auch von seiner Mutter oder Grossmutter her, das weiss ich nicht.

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