Glosse
Der Spieler: Die Hoffnung auf einen guten Wurf
«Gott würfelt nicht.» Mit diesem berühmten Satz brachte Albert Einstein 1926 seine Zweifel an der Quantenmechanik auf den Punkt. Dass er seine Kritik in das Bild des würfelnden «alten Mannes» packte, kommt nicht von ungefähr: Seit jeher steht der Würfel für den Zufall, für Nichtberechenbarkeit, für Nichtplanbarkeit. Und seit jeher werden Würfel in unterschiedlichsten Formen beim Spielen verwendet. Als Motor, der sagt, wie viele Schritte man ziehen darf. Als Instrument, das objektiv Entscheide trifft. Vor dem Werfen eines Würfels sind alle gleichberechtigt, egal ob jung oder alt, ob Mann oder Frau, ob Neuling oder Experte. Die Hoffnung auf einen guten Wurf verbindet alle. Nach dem Wurf ist Schluss mit der Gleichheit, die vorher bestanden hat. Denn der Wurf entscheidet über Sieg oder Niederlage, ohne Wenn und Aber. Im Spiel ist das leichter zu akzeptieren als sonst im Leben, da man hier mit Hoffnung auf neue Chancen neue Versuche wagen kann, und weil mit dem Würfel eine neutrale Instanz den Entscheid gefällt hat und nicht eine Person, die ja mit einem Vorurteil behaftet sein könnte …
Spannung von Glück und Pech
Die Spannung zwischen Glück und Pech mache das Faszinierende von Würfelspielen aus, schreibt der Psychologe und Spielautor Max J. Kobbert in seinem Buch «Kulturgut Spiel». Es gibt Spiele, die nur von dieser Spannung leben, wie «Eile mit Weile», «Backgammon» «Monopoly» oder «Yatzee». Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir uns als Kinder Nachmittage lang mit dem einfachen, aber spannenden Laufspiel «Malefiz» unterhalten haben.
Bei älteren Generationen gehören zu einem guten Gesellschaftsspiel ein oder mehrere Würfel. Jüngere Spielinteressierte sehen das anders. Denn sie haben miterlebt, wie das Ende der 1970er Jahre erschienene «Hase und Igel» mit seinem innovativen Mechanismus bewiesen hat, dass solche Spiele auch ohne Würfel möglich sind. Ohne Würfel bedeutet auch, dass die Teilnehmenden ihr Schicksal selber in die Hand nehmen und selber bestimmen, wie sie ihr Ziel erreichen wollen. So beeinflusste der gesellschaftliche Trend zu mehr Individualisierung auch die Welt der Spiele – neue Würfelspiele waren in den vergangenen 20 Jahren eher eine Seltenheit. Und wo Würfel eingesetzt wurden, dann geschah dies sehr dosiert und in der demokratischen Absicht, die Dominanz der mächtigen Taktiker zu brechen: «Die Siedler von Catan» verdanken ihren Millionenerfolg nämlich nicht zuletzt der Tatsache, dass der Würfel die Rohstoffversorgung regelt, also nicht Geld oder Macht, sondern der ausgleichende Zufall.
Der Würfel kommt wieder
In jüngster Zeit ist eine Trendumkehr zu beobachten: Grosse Gesellschaftsspiele kommen in Würfelvarianten auf den Markt, so «Im Wandel der Zeiten», «Bohnanza» oder «Zooloretto». Diese stehen ihren Vorbildern nicht nach. Gute Spielideen lassen sich eben auf verschiedenste Arten umsetzen. Der Zufall will es, dass vor kurzem gleich zwei Würfelspiele erschienen sind, die einen anderen interessanten Ansatz verfolgen: «Strike» und «Yay!» sind Würfel- und Aktionsspiel gleichzeitig.
«Strike» (in Deutschland heisst das Spiel «Der grosse Wurf») ist ein gnadenloses Eliminationsspiel. Es geht darum, als Letzte oder Letzter noch Würfel übrig zu haben. Das Spielbrett ist eine vertiefte ovale Arena, in die man seine Würfel hineinschmeisst. Aber nicht einfach so, sondern ganz gezielt. Wenn man an der Reihe ist, muss man nämlich versuchen, durch geschicktes Werfen seiner Würfel die in der Arena liegenden Würfel so «umzuwürfeln», dass möglichst viele gleiche Augenzahlen oben liegen. Alle Würfel mit gleichen Augenzahlen darf ich nämlich zurücknehmen, die restlichen bleiben in der Arena liegen. Aber aufgepasst: Würfel, die über den Rand der Arena springen, kommen endgültig aus dem Spiel, ebenso Würfel, die eine «X» zeigen.
Die Geschicklichkeit spielt zwar eine Rolle, letztlich aber ist der Glücksfaktor in «Strike» sehr gross. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der seine Runde genau nach Plan absolviert hat. Doch was tut das zur Sache: Wenn man sich unter diesen Bedingungen auf das Spiel einlässt, erlebt man sehr schnell, dass «Strike» süchtig machen kann. Ein Durchgang, ein zweiter und dann noch einer … was als schneller Abschluss eines Spieleabends gedacht war, könnte zu einem langen «Absacker» werden.
Weniger turbulent als «Strike» verläuft «Yay!». Hier besteht die Arena aus einem Spielfeld aus Holz – der Verlag hat sich im vergangenen Jahr erfreulicherweise dafür entschieden, die Qualität seiner Produkte massiv zu verbessern. In den Holzrahmen wird ein Papierbogen eingelegt, auf dem 64 quadratische Felder abgebildet sind. Ziel ist es, möglichst viele dieser Felder zu besetzen. Man wirft drei Casino-Würfel, zählt die Summe der Augenzahlen zusammen und schreibt die entsprechende Zahl in eines der drei Felder, auf dem ein Würfel liegt. Einmal beschrieben, ist dieses Feld besetzt, selbst wenn die betreffende Zahl im Verlauf des Spiels aufgrund der Regeln durchgestrichen werden muss. Das Spiel ist zu Ende, wenn eine waagrechte und eine senkrechte Reihe voll sind.
Klingt sehr einfach. Wenn da nicht noch Würfelglück, das sich nicht beeinflussen lässt, und die Spielregeln wären, die bestimmen, nach welchen Kriterien die Felder besetzt werden dürfen. So darf man seine Augenzahl neben einem Punktefeld eines Mitspielenden nur einsetzen, wenn diese höher ist als die von diesem eingetragene Punktezahl. Gleichzeitig werden alle angrenzenden Punktefelder, die niedriger sind, gestrichen. Sie zählen in der Endabrechnung nicht mehr. Ist die eigene Gesamtzahl jedoch niedriger, muss man ein freies Feld sperren, das von einem Würfel berührt wird. Tricky ist schliesslich auch die Bestimmung, wonach man solange würfeln darf, wie man will. Allerdings muss der Wert des nächsten Wurfes höher sein als der vorhergehende. Wenn nicht, muss man ein Feld, das man schon besetzt hat, streichen.
Bestimmte Felder ins Visier nehmen und dabei noch die richtige Zahl würfeln – das ist das Innovative an «Yay!». «Du hast es in der Hand», verspricht das Spiel auf der Verpackung. Schon, aber wenn die Würfel dann auf dem Brett liegen und man mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist, glaubt man dann doch eher, das Schicksal habe zugeschlagen. Also versucht man es noch einmal, denn auch im Spiel stirbt die Hoffnung zuletzt.
—
«Strike», Würfelspiel von Dieter Nüssle für 2 bis 5 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Spieldauer 15 Minuten. Verlag Ravensburger
«Yay!», Würfelspiel von Heinz Meister für 2 bis 4 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Spieldauer 20 Minuten. Noris Spiele
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung»