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Synes Ernst: Spiel-Experte © cc

Der Spieler: Die Fussballerin mit dem Brettspiel

Synes Ernst. Der Spieler /  Die Brasilianerinnen stärken an der Fussball-WM mit «Dixit» den Teamgeist – beste Werbung für das Gesellschaftsspiel an sich.

Mit einem in diesem Umfeld seltenen Utensil rückte die brasilianische Internationale Tayla (Pereira dos Santos) vergangene Woche im Quartier ein, wo ihr Team während der Fussball-Weltmeisterschaft der Frauen untergebracht ist: Unter den rechten Arm hat sie ein Brettspiel geklemmt, dessen Titel «Dixit» auf dem Foto deutlich erkennbar ist, das auf dem offiziellen Instagram-Account der Brasilianerinnen veröffentlicht wurde.

Dass Sportlerinnen und Sportler Spiele im Gepäck haben, um die Leerzeiten zu überbrücken, die bei Turnieren unendlich lang sein und zum berüchtigten Lagerkoller führen können, ist kein Geheimnis. Ebenso nicht, dass es sich bei diesen meist um Kartenspiele handelt. Oder gehandelt hat, weil sich die 18- bis 30-jährigen Spitzensportler heute in der Freizeit nicht anders verhalten als ihre gleichaltrigen Kolleginnen und Kollegen: Sie vergnügen sich mit Konsolen- und Smartphone-Games oder tummeln sich in sozialen Netzwerken.

Auf den ersten Blick anachronistisch

Vor diesem Hintergrund wirkt das Bild mit der Fussballerin, die «Dixit» zur Weltmeisterschaft mitbringt, geradezu anachronistisch. Denn das Spiel ist genau das Gegenteil dessen, was die Produkte der digitalen Spielwelt auszeichnet: Es ist weder hektisch und stressig noch actionorientiert, und es macht die Spielenden nicht zu Einzelgängern. «Dixit» ist langsam, das Tempo wird von den Teilnehmenden autonom bestimmt, und es führt die Menschen zusammen.

Im Mittelpunkt von «Dixit» stehen 84 grosse Bildkarten, um die sich das ganze Spielgeschehen dreht. 84 Karten, das bedeutet auch 84 unterschiedliche Illustrationen, welche gleich schon beim Auspacken das Interesse der Mitspielenden auf sich ziehen. Die Zeichnungen sind so gestaltet, dass man beim Betrachten gleich ins Assoziieren kommt. Im Verlauf des Spiels stellt man fest, dass die Vorstellungen, welche die einzelnen Mitspielerinnen und Mitspieler haben, ebenfalls sehr unterschiedlich sind.

Schnecke vor der Wendeltreppe

Genau mit dieser Vielfalt an Vorstellungen spielt «Dixit». Jeder Teilnehmer erhält zu Beginn einer Runde sechs phantasievoll gestaltete Bildkarten. Auf meinen sind beispielsweise zu sehen: Eine offene Hand, aus der heraus ein Sandwirbel in die Höhe steigt; eine Katze, die auf eine an der Wand hängende Hirschkopf-Jagdtrophäe starrt; ein Riese, der die Häuser einer Miniaturstadt verzehrt; eine Schnecke, die vor einer ins Unendliche führenden Wendeltreppe wartet; eine Katze, die einen in einer Glaskugel schwimmenden Goldfisch fixiert sowie einen Menschen, der eine Schar Vögel, die auf einem Ast sitzt, zu dirigieren versucht. Schön schräg, gell! Bin ich nun in dieser Runde der aktive Spieler, wähle ich eine dieser sechs Karten, lege sie verdeckt in die Tischmitte und erzähle dazu etwas, was mir zum gewählten Bild in den Sinn kommt. Das kann ein Wort sein, ein Satz, ein Zitat, ein Liedanfang, der Titel eines Films oder eines Buches. Ich habe das Bild mit der Katze und der Jagdtrophäe gewählt und sage, was mir dazu eingefallen ist: «Warten auf Godot!»

Nun sind die Mitspielenden an der Reihe. Sie wählen jeweils aus ihren sechs Bildkarten eine und legen sie ebenfalls verdeckt in der Tischmitte ab. Die Illustration auf dieser Karte sollte möglichst gut zu dem passen, was ich als aktiver Spieler gesagt habe, in diesem Fall also «Warten auf Godot». Haben alle ihre Wahl getroffen, werden die verdeckten Karten gemischt und aufgedeckt. Und gleich geht das Palaver los: «Was hat er gesagt, etwas mit Godot?», «Welche Karte könnte seine sein?», «Nein, Katze und Godot, das passt nicht zusammen!», «Doch doch, siehst du nicht, die Katze wartet vergebens …». Nun gibt jeder in einem geheimen Abstimmungsverfahren einen Tipp ab , welches seiner Meinung nach die Karte des aktiven Spielers ist, worauf dieser das Geheimnis lüftet. Anschliessend wird das Ergebnis gewertet: Punkte bekommt, wer als aktiver Spieler die Illustration auf seiner Karte gekonnt in eine Erzählung verpackt oder wer als Rater richtig getippt hat. Der Erzähler geht jedoch leer aus, wenn alle Mitspielenden die Karte erraten haben. In diesem Fall wird er dafür bestraft, dass sein Hinweis zu offensichtlich war. Keine Punkte gibt es für den aktiven Spieler auch, wenn ihm aufgrund eines ungenügenden oder zu schwierigen Hinweises niemand auf die Spur gekommen ist. Die – nicht ganz einfache – Herausforderung besteht also darin, beim Erzählen einen Mittelweg zu finden zwischen dem Verschleiern auf der einen und dem Preisgeben auf der anderen Seite.

Bilder wecken Assoziationen

Am Schluss steht fest, wer am meisten Punkte erzielt hat und damit Gewinnerin oder Gewinner ist. Aber das ist nicht einmal so wichtig. Entscheidend ist vielmehr das Spielerlebnis als solches. Zu erfahren nämlich, wie Bilder in uns Menschen die unterschiedlichsten Assoziationen wecken, und wie schwierig es bisweilen sein kann, diese Vorstellungen und Gedanken auch so zu formulieren, dass sie von Anderen (Partnerin oder Partner, Gruppe, Team) auch richtig verstanden werden.

Mit diesem «Dixit» also beschäftigen sich die brasilianischen Fussballerinnen in ihrer Freizeit während der Weltmeisterschaft. Eine tolle Sache, finde ich. Denn es zeigt, dass die Frauen in diesem Team bereit sind, ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen, anhand von Bildern zu träumen, ihre persönlichen Vorstellungen den anderen preiszugeben, dass sie bereit sind, sich aufeinander einzulassen und sich mit der Vorstellungswelt der Einzelnen auseinanderzusetzen. Auch wenn das alles «nur» spielerisch erfolgt, setzt das einen intensiven Prozess in Gang, der das Team als Gesamtes nur stärken wird. «Das Gespräch und der Gedankenaustausch unter uns allen sind sehr wichtig», antwortete denn auch die Verteidigerin Andressinha (Andressa Alves da Silva), als sie von einer Reporterin von «Esporte UOL» gefragt wurde, warum die Fussballerinnen «Dixit» spielten.

Das Bild mit der Fussballerin, die «Dixit» zur Weltmeisterschaft mitbringt, ist beste Werbung für die Beschäftigung mit Brett- und Gesellschaftsspielen ganz allgemein und für das 2010 mit dem Titel «Spiel des Jahres» ausgezeichnete Spiel im besonderen. Erst recht, wenn die Brasilianerinnen die Weltmeisterschaft gewinnen. Dank «Dixit»!

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Dixit: Kommunikations- und Ratespiel von Jean-Louis Roubira für 3 bis 6 Spielerinnen und Spieler ab 8. Jahren. Verlag Libellud/Asmodée, ca. Fr. 40.- Zum Grundspiel gibt es verschiedene Erweiterungen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.

Zum Infosperber-Dossier:

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