Der Spieler: Dichtes Gedränge auf dem Wanderweg
Die Liste der Rollen, in die man als Spielerin oder Spieler schlüpfen kann bzw. muss, wenn die Regeln es so wollen, ist unendlich lang. Was habe ich schon als Marktfahrer Waren verkauft, auf Basaren gehandelt, als Ritter Schlachten geschlagen oder als Abenteurer Inseln entdeckt, als König über ein Riesenreich geherrscht oder in einem Team versucht, die Menschheit vor einem tödlichen Virus zu retten! Aber bin ich denn in einem Spiel gewandert? Mit dem Zug durch die Schweiz, durch Europa und quer durch Nordamerika gefahren, ja, das bin ich schon unzählige Male, aber gewandert? Wenn ich mich richtig erinnere, ist mir das noch nie passiert.
Recherchen mit Hilfe der gängigen Suchmaschinen stützen meine Erinnerung: Wandern hat es als Thema nicht in die Gesellschaftsspiele geschafft. Dieses Phänomen lässt sich vermutlich ganz einfach begründen: Warum soll ich am Tisch simulieren, was ich vor meiner Haustüre im wahrsten Sinne des Wortes in natura praktizieren kann, wenn ich Lust darauf habe?
Schönheit geniessen
Doch gilt auch hier das Gesetz, wonach es keine Regel ohne Ausnahme gibt. Und diese Ausnahme ist «Parks» von Henry Audubon, das derzeit in Spielerkreisen grosse Aufmerksamkeit geniesst. Vor allem wegen seines Auftritts, der das Spiel weit über den Durchschnitt hinaushebt. Von der Optik her ist «Parks» eine Wucht. Das trifft für die gesamte Ausstattung zu, in erster Linie aber für die 48 Nationalparkkarten. Ihre Illustrationen stammen aus dem Projekt Fifty-Nine-Parks, zu dem sich Illustratoren und Designerinnen zusammengeschlossen haben, um mit dem Verkauf von Posters und Karten einen Beitrag zum teuren Unterhalt der nordamerikanischen Nationalparks zu leisten.
Man sollte sich deshalb darauf gefasst machen, dass eine Runde nicht gleich nach dem Öffnen der Schachtel mit dem Spielen beginnen will, sondern sich zuerst in aller Ruhe in die Schönheiten der Parks vertieft, vom Kenai Fjords Nationalpark in Alaska über den Arches Nationalpark in Utah bis zum Great Smoky Mountains Nationalpark in North Carolina/Tennessee. Lobend werden sich die Mitspielenden auch darüber äussern, wie genial der Verlag das doch umfangreiche Material in eine kompakte Schachtel verpackt hat.
Ein solcher Auftritt weckt hohe Erwartungen. Werden sie auch erfüllt?
Ja, lautet meine Antwort. Ich muss allerdings vorausschicken, dass man ein paar Durchgänge benötigt, bis man geniessen kann, was in «Parks» steckt. Die Regeln sind zwar nicht übermässig anspruchsvoll. Aber: Das Material kennenzulernen, den Mechanismus zu durchschauen und das Zusammenspiel der verschiedenen Elemente und Möglichkeiten zu verstehen – das kann im ersten Anlauf nicht gelingen. Ein bisschen Geduld ist angesagt, es lohnt sich in jedem Fall, nicht nur bei «Parks».
Besuch von Nationalparks kostet
In «Parks» versuchen alle Mitspielenden mit je zwei Wanderern möglichst viele Nationalparks der USA zu besuchen. Wie bei solchen Institutionen üblich, kostet der Eintritt etwas. So habe ich für den Mount Rainier Nationalpark in Washington drei Gebirge-Marker auf den Tisch zu legen, für den Gates of the Arctic Nationalpark in Alaska drei Gebirge- und vier Wasser-Marker, für den Sequoia Nationalpark in Kalifornien vier Baum-Marker und für den Zion Nationalpark in Utah einen Wald-, einen Gebirge- sowie vier Sonnen-Marker. Für jeden besuchten Park gibt es Siegpunkte, so für den Zion-Park vier Punkte oder für den Gates of the Arctic fünf.
Vor diesem Hintergrund wird sofort klar, dass man in «Parks» nicht zum blossen Vergnügen oder der körperlichen Ertüchtigung willen unterwegs ist. Man unternimmt die Wanderung, um die Marker zu bekommen, die man für den Besuch der Nationalpärke benötigt. Entsprechend den vier Jahreszeiten, die jeweils die Rahmenbedingungen beeinflussen, macht man sich insgesamt viermal mit seinen zwei Wanderern auf den Weg. Dabei wird der Parcours jede Runde ein Stück länger. Die einzelnen Streckenabschnitte werden jedesmal nach dem Zufallsprinzip neu ausgelegt. Für ein bisschen Abwechslung ist also gesorgt.
Immer nur vorwärts Richtung Ausstieg
Für das Ziehen meiner Figuren gibt es eine einzige Regel: Nur vorwärts Richtung Ausstieg, nie rückwärts. Das ist alles. Ich bin frei, zu entscheiden, welchen Wanderer ich wie weit ziehen will. Auf einen bereits besetzten Streckenabschnitt darf ich nur gehen, wenn mein Lagerfeuer noch brennt (höchstens einmal pro Runde). Sobald ich auf einem Abschnitt gelandet bin, führe ich die Aktionen aus, die dort möglich sind. Auf diese Weise komme ich beispielsweise zu den Markern, die ich für den Besuch der Parks benötige, kann Marker tauschen (Wasser gegen Wald) oder darf Fotos knipsen, die wertvolle Siegpunkte bedeuten.
Von besonderer Bedeutung ist der Ausstieg am Ende des Wanderparcours, weil von dort aus ganz spezielle Aktionen ausgelöst werden können, so den Besuch bzw. die Reservierung eines Parks oder den Kauf von Ausrüstungsgegenständen wie Feldstechern, Tagebüchern oder Wanderkarten, die einem im weiteren Verlauf der Wanderung verschiedene Vergünstigungen bieten.
Es ist im Spiel «Parks» wie in der Wirklichkeit: Wer planlos unterwegs ist, wird das Ziel nie und nimmer erreichen, das hier darin besteht, mit dem Besuch von Nationalparks möglichst viele Siegpunkte zu erreichen. Dementsprechend müssen wir auf unseren Wanderungen alle Aktionen aufeinander abstimmen, um deren Potenziale maximal auszuschöpfen. In der Betriebswirtschaft würde man von Ressourcenoptimierung sprechen.
Weder aggressiv noch böse
Davon sollte man sich nicht abschrecken lassen. Das bedeutet einfach, dass ich mir bei jedem Zug überlege, von welcher Aktion ich im weiteren Verlauf des Spiels am meisten profitiere. Je nach dem, ob ich meine Vorräte aufstocken, Marker tauschen, Ausrüstungsgegenstände kaufen, Fotos knipsen, Parks besuchen oder reservieren will, plane ich meine nächsten Schritte. Ob ich diese auch so wie gewollt ausführen kann, hängt stark von der Spielerzahl ab. Da die Wanderwege in «Parks» relativ kurz sind, herrscht bei mehr als drei Mitspielenden ein dichtes Gedränge, was die Wahlfreiheit in Bezug auf Ressourcen und Aktionen durchaus einschränken kann. Das bedeutet aber auch, dass «Parks» in grösseren Runden emotionaler verläuft, da man einander öfter ins Gehege kommt und taktische Pläne durchkreuzt.
Apropos Planung: Eine einzige Taktik oder Strategie, die garantiert zum Erfolg führt, gibt es für «Parks» wohl kaum. Am besten dürfte man fahren, wenn man sich breit aufstellt, das heisst, sich mit verschiedensten Arten von Markern eindeckt, einige Tauschmöglichkeiten offen hält und rasch zugreift, wenn siegpunktträchtige Nationalparks zum Besuch frei sind. Im Auge zu behalten ist zudem der Fotoapparat, der der jeweiligen Besitzerin einige Vorteile verschafft. Er ist auch deshalb ein begehrtes Objekt, weil Fotos in der Schlusswertung zusätzliche Siegpunkte einbringen.
«Parks» lässt sich weder aggressiv noch bös spielen. In verschiedenen Kritiken ist denn auch von einem «Wohlfühlspiel» die Rede. So ist es auch fast nicht möglich, spielerische Fehler zu begehen, die dann mit Minuspunkten bestraft würden. Selbst wenn das Spiel als Ganzes etwas mehr Pfeffer ertragen würde, bietet für mich persönlich das Optimieren der verschiedenen Elemente ein reizvolles Spielerlebnis, in das mich die tolle Aufmachung von «Parks» geradezu hineinzieht.
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Parks: Sammel- und Optimierungsspiel von Henry Audubon für eine bis fünf Personen ab zehn Jahren. Verlag Feuerland. Fr. 53.-
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker Synes Ernst war lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.