Der Spieler: Das Tor zur fantastischen Welt der Kartenspiele
Ist es bloss Zufall oder ist es gar der Beginn einer neuen Entwicklung? Da entdecke ich doch auf den Verpackungen und in den Regelheften von zwei neuen Kartenspielen Hinweise darauf, auf welcher Grundidee die Spiele basieren.
Beispiel «Allegra»: Gleich ins Titellogo integriert ist bei «Allegra» der Hinweis «Golf Game Family». Weiter heisst es in der Spielanleitung, «Allegra» sei «eine ‹semi-kooperative› Variante aus einer großen Familie von Kartenspielen, die seit langer Zeit, z.B. unter dem Namen ‹Golf›, im angelsächsischen Raum gespielt werden. Bis vor noch nicht allzu langer Zeit verwendete man dafür Poker-Karten».
Beispiel «Blaze»: Bei «Blaze» erfolgt die Charakterisierung als «ein Durak-Spiel» im Untertitel. Im «Vorwort» zu den Spielregeln wird dann kurz ausgeführt, was das bedeutet: «‹Blaze› ist ein Kartenspiel für 3 bis 5 Spieler. Es basiert auf dem russischen Klassiker ‹Durak›, welcher weltweit von Millionen von Menschen gespielt wird. Bei ‹Durak› geht es nur darum, nicht der Verlierer zu sein. ‹Blaze› greift das einzigartige Spielprinzip von ‹Durak› auf, doch es geht ums Gewinnen – und als letzter Spieler Karten auf der Hand zu haben, heisst nicht unbedingt, dass man verloren hat.»
Nur diese Adresse
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in Spielanleitungen schon früher entsprechende Hinweise auf die Genealogie eines Spiels gesehen habe (falls ich mich täuschen sollte, bitte ich um eine Rückmeldung). Als Spielekritiker weiss ich solche Informationen als Ausgangspunkt für weitere Recherchen zum betreffenden Spiel sehr zu schätzen. Für Kartenspiele – ich beschäftige mich im folgenden nur mit solchen – gibt es für diese Recherchen nicht nur für mich, sondern für alle, die mehr über ein Spiel erfahren wollen, nur eine Adresse: Das Kartenspielportal pagat.com (hier landet früher oder später auch, wer über eine der gängigen Suchmaschinen geht).
Nehmen wir also «Durak», auf dem «Blaze» basiert. Auf der deutschsprachigen «Pagat»-Homepage stelle ich fest, dass «Durak» neben «Shithead», «Watten», «Rummikub» und «Canasta» in der Rubrik «Die beliebtesten Spiele» aufgeführt ist. Vor ein paar Tagen noch war es auf der Liste der vom Herausgeber empfohlenen Titel zu finden. «Durak», auf das ich erst im Zusammenhang mit «Blaze» aufmerksam geworden bin, scheint eine nicht unbekannte Grösse zu sein, schliesse ich aus diesen Erwähnungen. Ich klicke weiter auf «Durak» und finde alles über «das zweifellos beliebteste Kartenspiel in Russland» von einer allgemeinen Einführung, über Spielziel und -material, einen illustrierten Ablauf mit Angriff und Verteidigung, das Aufnehmen der Karten bis hin zum Endspiel. Ergänzt wird das Ganze mit einer Beschreibung von Varianten sowie dem Hinweis auf weitere Webseiten und die Möglichkeiten, «Durak» am Computer oder Online zu spielen. Und falls ich Zeit und Lust hätte, «Durak» in einer bessarabischen Version auszuprobieren – «Pagat» liefert mir den entsprechenden Link. Drucke ich sämtliche Informationen über das russische Kartenspiel Nummer eins aus, ergibt das insgesamt 13 A4-Seiten – eine beeindruckende Menge Material.
Ein Leben für die Kartenspiele
Hinter «Pagat» steht der heute 72-jährige britische Mathematiker John McLeod, der sich seit seinem Studium in Cambridge mit Kartenspielen beschäftigt. Sein Hauptinteresse gilt dem Tarock, seiner Meinung nach einer der interessantesten Kartenspielfamilien der Welt. Ihre Geschichte beschreibt er als Co-Autor des 2004 erschienenen zweibändigen Werks «A History of Games Played with the Tarot Pack: The Game of Triumphs». Seine Liebe zur Tarock hat er im Namen der Webseite verewigt: Eine der wichtigsten Karten im Tarock ist der niedrigste Trumpf mit der römischen Zahl I (für Eins), der traditionell «Pagat» genannt wird.
McLeod startete das heute weltweit wichtigste Kartenspielportal pagat.com 1995. Wie es dazu kam, erzählt er in einem Interview: «Meine Freundesgruppe spielte sehr viele verschiedene Kartenspiele, und viele davon waren nicht richtig auf Englisch beschrieben. Deshalb habe ich für viele Spiele die Regeln geschrieben, auf die wir uns dann beziehen konnten. In den 1990er Jahren, als ich mehr über das World Wide Web entdeckte, kam mir der Gedanke, dass eine Webpage der ideale Ort war, um die Regeln unterzubringen. Eine Website wäre einem Buch vorzuziehen. Die Seiten für verschiedene Spiele konnten beliebig lang sein. Man konnte einen Index anfertigen und verschiedene Kategorien herausarbeiten. Es war leicht, ein Update zu schreiben oder mehrere Seiten hinzuzufügen, wenn man neue Informationen erhielt. Und prinzipiell konnte man von überall auf die Seiten zugreifen.»
Authentische Regeln
Die Webseite beschreibt rund 500 Kartenspiele (samt Varianten) aus der ganzen Welt. Das sind nach eigenen Angaben etwa 30 bis 50 Prozent der existierenden traditionellen Kartenspiele für mehrere Personen. Im angesprochenen Interview und in den allgemeinen Grundsätzen der Webseite erläutert McLeod seine Politik: «Ich bemühe mich darum, dass die Regeln, die ich hier beschreibe, ‹authentisch› sind – d.h. sie sollten mit den Regeln übereinstimmen, die die Spieler benutzen, die das Spiel heute noch regelmässig spielen.» Er halte das für besser, als sich auf die Beschreibungen in Büchern zu verlassen, die ungenau oder veraltet sein können.
Die Stärke von pagat.com beruht nicht zuletzt auch darauf, das McLeod die Erfahrungen und Kompetenzen seines ausgedehnten Netzwerkes nutzt. Auf der Policy-Seite des Portals findet man eine Liste von mehr als 500 Korrespondentinnen und Korrespondenten, die Beiträge für «Pagat» geleistet haben. Mit Hilfe seines Netzwerkes aktualisiert und entwickelt McLeod die Seite auch weiter.
Zum Spielen verführen
Auf die Frage, was seine Seite von anderen unterscheide, antwortet McLeod unter anderem: «Sie ist vom Umfang her einzigartig, denn sie versucht wirklich, eine repräsentative Sammlung von traditionellen Kartenspielen aus aller Welt zu sein. Sie versucht auch, eine wirklich gründliche Beschreibung von jedem Spiel zu geben – und zwar genau genug, dass sie einer Gruppe von Kartenspielern, die vorher nichts von diesem Spiel wussten, die Möglichkeit gibt, die Regeln zu verstehen und das Spiel zu spielen.» Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass «Pagat» dieses Versprechen einlöst. Ich habe dank dieser Webseite schon verschiedene Kartenspiele kennengelernt, von deren Existenz ich bis anhin nichts wusste.
«Pagat» kategorisiert die Kartenspiele wohl, bewertet sie jedoch nicht, obwohl das viele Nutzerinnen und Nutzer der Seite gerne hätten. McLeod dazu: «Was die meisten Spieler am liebsten hätten, wäre eine Einteilung in gute und schlechte Spiele. Aber verschiedene Gruppen von Spielern schätzen verschiedene Gruppen von Spielen; und die meisten Spiele auf dieser Seite kommen mit der Empfehlung von den Einsendern, dass es das beste Kartenspiel sei, das sie kennen.»
4000 Zugriffe pro Tag
Der Zugang zu den einfach gestalteten «Pagat»-Seiten ist umsonst. Das Kartenspielportal finanziert sich über Werbung, die jedoch äusserst diskret platziert ist. Gemäss eigenen Angaben zählt man pro Tag durchschnittlich rund 4000 Zugriffe (Page Views). Die «Pagat»-Statistik weist bei den deutschsprechenden Nutzerinnen und Nutzern für die vergangenen drei Monate ein hohes Interesse für «Durak» aus, während bei den englischsprechenden die Nachfrage nach «Shithead», einem aus Skandinavien stammenden Stichspiel, und «Golf» besonders gross war.
Für mich als Spielekritiker und generell an Spielen Interessierten ist «pagat.com» eine unersetztliche Fundgrube. So viele Informationen über Kartenspiele wie hier finde ich nirgends. Die Seite richtet sich aber nicht nur an Spezialisten, sondern auch an das breite Publikum. Ich empfehle sie allen. Nicht nur, um Informationen über ein bestimmtes Spiel zu bekommen, sondern auch, weil sie darüber hinaus den Blick auf die fantastische Welt der Kartenspiele öffnet.
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Erwähnte Spiele:
Allegra: Kartenablegespiel von Bella Lucca für 2 bis 6 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Verlag Drei Hasen in der Abendsonne, Fr. 17.-
Blaze: Taktisches Kartenspiel von Heidelbär Games Team für 3 bis 5 Spielerinnen und Spieler ab 10 Jahren, Heidelberger, Fr. 22.-
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Synes Ernst ist Spielekritiker und beratendes Mitglied der Jury «Spiel des Jahres».
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.