Glosse

Der Spieler: Das Stehaufmännchenspiel

Synes Ernst ©

Synes Ernst. Der Spieler /  Die Spielidee von Sid Sacksons «Can't stop» ist nicht tot zu kriegen. Gottseidank. Denn sie ist einfach und genial zugleich.

«Can’t stop» sei derzeit bis auf einzelne Exemplare ausverkauft, meldete dieser Tage der kleine deutsche Spielverlag Franjos per Twitter. «Schade», war meine spontane Reaktion, aber nachdem ich den zweiten Satz der Nachricht gelesen hatte, konnte ich aufatmen: «Ab Oktober gibt es aber eine Neuauflage.»

Wenn ich ehrlich bin: Etwas anderes hatte ich nicht erwartet. Denn eine so lange Reihe von unterschiedlichen Editionen des gleichen Spiels kann doch nicht einfach abrupt zu Ende sein. 1981 war «Can’t stop» in Deutschland zum ersten Mal auf den Markt gekommen. Weil das Design – vor allem das dem US-Verkehrssignal nachgebildete Stopp-Schild – für das damals noch recht stilkonservative Spielerpublikum sehr ungewöhnlich war, schaffte «Can’t stop» nicht die erhofften Verkaufszahlen und wurde vom Verlag Parker relativ rasch wieder aus dem Programm genommen. Die zweimalige Empfehlung durch die «Jury des Jahres» hatte dies nicht zu verhindern vermocht. 1991 sicherte sich Franjos die Lizenz,
1998 und 2005 folgten weitere Neuausgaben. 2007 kaufte Ravensburger die Veröffentlichungsrechte. Nachdem dieser Lizenzvertrag Ende 2010 ausgelaufen war, griff Franjos erneut zu. Dass der Verlag nicht gewillt ist, «Can’t stop» aufzugeben, bestätigt die aktuelle Ankündigung, dass im Oktober eine weitere Auflage folgen werde.

Risiko oder Sicherheit

Warum hat sich ein letztlich einfaches Würfelspiel zum Stehaufmännchen in der Spielelandschaft entwickelt? Bevor wir diese Frage zu beantworten versuchen, hier eine kurze Beschreibung dessen, worum es in «Can’t stop» überhaupt geht. In der Franjos-Version ist es ein Bergsteigerspiel. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern stehen elf von 2 bis 12 nummerierte Routen zur Verfügung, um den Gipfel zu erklimmen. Wer als erster drei Routen bezwungen hat, ist Sieger. Wer am Zug ist, würfelt gleichzeitig mit allen vier Würfeln. Jeweils zwei der Würfel werden nun zu einem Paar kombiniert, dessen Augensumme die Route festlegt, auf der man sich als Bergsteiger aufwärts bewegen darf. Wenn man seine drei Bergsteiger in Marsch gesetzt hat, wird die Kletterei zum Spiel mit dem Risiko: Man darf nämlich weiterwürfeln, riskiert aber, alles, was man erreicht hat, zu verlieren. Kann man nämlich nicht mindestens einen seiner Bergsteiger bewegen, stürzen alle ab, zurück an den Start. Man darf aber auch freiwillig aufs Weiterwürfeln verzichten und bei den aktuellen Positionen ein Zwischenlager einrichten. Im nächsten Zug startet man dann von hier aus.

Risiko oder Sicherheit? Wie beim echten Bergsteigen bewegt man sich in «Can’t stop» als Spielerin oder Spieler exakt zwischen diesen beiden Polen. Man ist ständig hin- und hergerissen. Würfelt man weiter und erhöht seine Chance auf schnelles Weiterkommen, riskiert aber gleichzeitig den Absturz? Oder geht man auf Nummer sicher, richtet ein Zwischenlager ein und nimmt damit in Kauf, dass andere Seilschaften an einem vorbeiziehen? Allein schon dieses Abwägen macht «Can’t stop», so einfach und kurz es ist, unheimlich intensiv. Das wäre auszuhalten, gäbe es da nicht noch die liebe Konkurrenz, die nicht nur schweigend zuschaut, wie ich würfle und mit dem Entscheid ringe, ob ich nun weitermachen soll oder nicht. Nein, da wird lauthals kommentiert, und die uneigennützigsten Kommentare prasseln auf mich ein: «Wirklich, willst Du es noch einmal wagen?», «Du bist wirklich ein Feigling, wenn Du jetzt aufhörst …», oder: «Ich an Deiner Stelle würde jetzt aber ein Zwischenlager einrichten!» Das schadenfreudige Gelächter sollte man hören, wenn ich dann den andern beweisen will, dass ich doch kein Feigling bin, wenn ich die Würfel nochmals werfe und, grausam, alle meine Bergsteiger abstürzen, weil ich die richtigen Kombinationen nicht bilden kann.

In der Spielanleitung steht nichts von solchen Spielereien unter den Spielenden. Dabei verbergen sich gerade darin die Kraft und das Potenzial von «Can’t stop». Auf der einen Seite die Herausforderung des Würfelglücks, auf der anderen die Interaktion unter den Spielenden: Diese Kombination übt einen fast unheimlichen Sog aus, dem man erliegt, kaum hat eine Partie «Can’t stop» begonnen. Man kann nicht mehr aufhören, wie der Titel des Spiels richtig sagt: «Can’t stop!»

Das Spiel als Kunstwerk

«Can’t stop»-Autor Sid Sackson (1920 bis 2002) war weltweit einer der bedeutendsten Spielautoren. Wenn Brettspielliebhaber ihre Top-Ten-Liste nennen, befindet sich sein «Acquire» garantiert darauf. Sacksons Taktikspiel «Focus» wurde 1981 «Spiel des Jahres», «Can’t stop» gehört, wie seine Zählebigkeit beweist, zu den modernen Klassikern. Es verkörpert für mich auch das, was Sackson über seine eigenen Spiele schreibt: «Ich kann nur solche Spiele erfinden, die ich selbst gern spiele. Es muss Interaktion zwischen den Spielern geben, und reichhaltige Entscheidungsmöglichkeiten. Ich habe zwar nichts dagegen, wenn Glück eine wichtige Rolle spielt, es muss aber auf alle Fällen auch ein taktisches Element enthalten sein, so dass man bei jeder Partie etwas über das Spiel hinzulernen kann. Und schliesslich darf ein Spiel – von ein paar Ausnahmen abgesehen – nicht länger als 90 Minuten dauern.»

Sacksons Spiele beeindrucken durch ihre Einfachheit und Geradlinigkeit, vor allem auch jene, die er in seinem für die Entwicklung des Spielens wichtigen Buch «Gamut of Games» (dt. «Spiele anders als andere») veröffentlicht hat. Das erstaunt nicht: Bevor er sein Geld mit Spielerfinden verdiente, war Sackson, der mit seiner Familie in New York lebte, von Beruf Bau- und Verkehrsingenieur. Spiele waren für Sid Sackson aber nie eine mechanische Konstruktion. Vielmehr sah er in jedem Spiel ein Kunstwerk: «Für mich sind Spiele eine Kunstform von grossem ästhetischem Wert. Genauso, wie das Werk eines Komponisten durch Musiker zum Leben gebracht wird, machen Spieler die Kreation eines Spielerfinders lebendig. Entsprechen sich die Inspiration des Erfinders und das Talent der Spieler, entsteht ein wirkliches Kunstwerk.»

Mit seiner Kargheit passt Sackson nicht unbedingt in unsere durch Überfluss geprägte Zeit, auch bei den Spielen. Aber so unmodern er scheinen mag, er beherrschte die Grundlagen des Autorenhandwerks aus dem Effeff. Und die muss er beherrschen, bevor er sich an Grösseres wagt. Vielleicht ist die Neuauflage von «Can’t stop» eine gute Gelegenheit, diese Binsenweisheit in Erinnerung zu rufen.

Can’t stop: Taktisches Würfelspiel von Sid Sackson für 2 bis 4 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Spieldauer ca. 30 Minuten. Franjos-Verlag, Fr. 31.–


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».

Zum Infosperber-Dossier:

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