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Synes Ernst: Spiel-Experte © cc

Der Spieler: Das Spiel zur mysteriösen Crypto-Affäre

Synes Ernst. Der Spieler /  Phantasie und Kreativität genügen: In «Decrypto» verschlüsseln und entschlüsseln wir ohne Chiffriermaschinen und ohne Hintertüren.

«Das Spiel zur Affäre!» Mit diesem Slogan hätte ich als Besitzer eines einschlägigen Fachgeschäfts das Spiel «Decrypto» ins Schaufenster gestellt, als Mitte Februar die Schlagzeilen über die üblen Machenschaften rund um das Zuger Unternehmen Crypto für öffentliche Aufregung sorgten. Gedanken darüber, ob damit die Aufmerksamkeit der Passantinnen und Passanten geweckt worden wäre, hätte ich mir keine machen müssen – Geheimes zieht immer. Nicht nur, weil gerade die ganze Schweiz (vielleicht auch bloss die halbe oder gar nur ein Dreihundertdreiunddreissigstel) von der Affäre sprach. Nein, auch sonst, siehe die Millionenauflagen der Bücher eines Dan Brown («Da Vinci Code»), die gar nicht möglich wären, wenn es da nicht die Faszination des Versteckten, Dunklen oder Dubiosen gäbe, die uns Menschen immer wieder in ihren Bann zieht.

Mit dem Bridge-Code fing alles an

Dieses Phänomen spielt auch in der Entstehungsgeschichte von «Decrypto» eine Rolle. Wie der Autor, der heute 32-jährige Kanadier Thomas Dagenais-Lespérance, in einem Interview berichtet, habe ihn fasziniert, was ihm seine Grossmutter vom Bridge-Spielen erzählte. Dort würden die Partner miteinander über geheime Codes Informationen über die eigenen Karten austauschen. Daraus, dachte Dagenais-Lespérance, liesse sich doch ein Spiel machen, in dem das Risiko, dass die geheimen Botschaften vom Gegner abgefangen werden könnten, von alleine für eine grosse Spannung würde.

Mittlerweile liegt «Decrypto» vor. Worum es hier im Grundsatz geht, ist einfach: Kryptografieren. Wie in der realen Welt der Geheimdienste brauchen wir auf der einen Seite einen Sender, der die Informationen verschlüsselt, und auf der anderen Seite einen Empfänger, der die Botschaft wieder in den ursprünglichen Klartext umsetzt. Offen darf man nicht miteinander kommunizieren, weil verhindert werden soll, dass ein unbefugter Dritter etwas mitbekommen könnte, was nicht für seine Ohren gedacht ist. Also verkehrt das Team untereinander verschlüsselt. Wie das nun in «Decrypto» konkret umgesetzt wird, ist theoretisch allerdings eher schwierig zu erklären.

Anspruchsvolle Rollen

Zu Beginn des Spiels werden Teilnehmerinnen und Teilnehmer in zwei Teams eingeteilt. Diese bestreiten einen Wettkampf um die besten «Verschlüsselungskünstler», wie es in der Spielanleitung heisst. Ein Teammitglied übernimmt jeweils für eine Runde die Rolle des Chiffreurs, die andern sind die Entschlüssler. Anspruchsvoll sind beide Rollen, wobei die Herausforderungen je nach Funktion sehr unterschiedlich sind.

Herausfinden müssen die beiden Teams dreistellige Zahlencodes, die jeweils nur den Verschlüsslern bekannt sind. 431 könnte ein solcher Code sein. Um diesen Code zu chiffrieren, stehen vier Codewörter zur Verfügung, zum Beispiel «Pass», «König», «Kirche» und «Markt». Diese vier Schlüsselwörter sind nur für das eigene Team einsehbar, ebenso die vier Ziffern, denen sie jeweils zugeordnet sind, in unserem Fall «Pass» der 1, «König» der 2, «Kirche» der 3 und «Markt» der 4.

«Glocken» passen zu «Kirche»

Nun ist es am Verschlüssler, nach Umschreibungen oder Assoziationen für die drei entsprechenden Codewörter zu suchen, die seinem Team Hinweise auf den geheimen Code geben sollen, der in unserem Falle 431 lautet. Zum «Markt» kommt ihm «Stand» in den Sinn, zu «Kirche» «Glocken» und zu «Pass» «Berge». Diese drei Umschreibungen kommuniziert er offen seinem Team, das sich nun an deren Entschlüsselung macht. Der Chiffreur darf sich nicht an den Diskussionen seines Teams beteiligen, selbst wenn er bemerkt, dass seine Leute auf einer falschen Spur sind.

Eine wichtige Information über die hinterlegten Ziffern gibt es: die Reihenfolge, in welcher die Hinweise erfolgt sind. Der erste könnte auf «Markt» hindeuten, das Schlüsselwort also, das mit der 4 verbunden ist. Aufgrund dieser Angaben könnten die Dechiffreure zum Schluss gelangen, dass der Code mit einer 4 beginnt. Dank Phantasie, Intuition, Glück und guter Zusammenarbeit ist es möglich, dass meine Crew den Code auf Anhieb knackt. Dabei muss man aber immer damit rechnen, dass die Gegner unsere Mission erfolgreich stören und den Code entschlüsseln, bevor das uns gelungen ist. Der Druck auf die Teams ist hoch: Zwei Fehlversuche, und das Team hat verloren, und Sieg, wenn man die Gegner zweimal erfolgreich abgefangen hat.

Umschreibungen mit Phantasie

Seine wahren Qualitäten entwickelt «Decrypto» erst so richtig im Verlauf des Spiels: Der Clou besteht nämlich darin, dass der zu ratende dreistellige Zahlencode in jeder Runde wechselt, während die vier zu Beginn dem Team zugeteilten Schlüsselwörter («Pass», «König», «Kirche» und «Markt») während der gesamten Partie gleich bleiben. Das hat zur Folge, dass man mit der Zeit immer mehr Informationen über sie preisgeben muss. Um zu verhindern, dass es deswegen dem gegnerischen Team immer leichter fällt, unsere Mitteilungen abzufangen, ist unser Chiffreur gezwungen, sich immer phantasievollere Umschreibungen einfallen zu lassen. Hinweise, die wohl den Gegner, nicht aber die eigenen Leute auf falsche Fährten locken.

Die fünfte, sechste, siebte Umschreibung für «Kirche»? Puh, da kommen sogar geübte Sprach- und Wortjongleure ins Schwitzen, wobei «Kirche» noch ein einfacher Begriff ist, Schwierigkeitsgrad 2. Versuchen Sie es einmal mit «Adliger», «Sanduhr» oder «Sandwich»! Damit ist auch schon gesagt, wer das ideale Zielpublikum von «Decrypto» ist: Menschen, die gerne mit der Sprache spielen. Ideal sind Gruppen, die dieses Spiel lustvoll betreiben und einander gegenseitig anregen, ihren Sprachschatz voll auszuschöpfen.

«Decrypto» besitzt eine gewisse Verwandtschaft mit «Codenames», das 2016 die Auszeichnung «Spiel des Jahres» bekommen hat. Doch es gibt auch Unterschiede: Der Zugang zu «Codenames» ist einfacher als jener zu «Decrypto». Nicht nur, weil die Spielanleitung zu «Decrypto» eine Zumutung ist und alles andere als eine Einladung zum Spielen darstellt. «Decrypto» ist anspruchsvoller, weil man hier, anders als in «Codenames», immer wieder gezwungen ist, um zwei oder drei Ecken herum zu denken. «Decrypto» ist auch intensiver als «Codenames», weil man hier dauernd zwischen Verschlüsseln und Entschlüsseln hin und her wechselt, was unsere geistige Flexibilität ganz schön herausfordert. Die Intensität von «Decrypto» rührt auch daher, dass der Teamgedanke nicht bloss theoretisch ist, sondern im Austausch und den Diskussionen echt gelebt wird. Und anders als in «Codenames», bei dem das Agenten-Thema letztlich nicht zwingend ist, ist hier die Einbettung in die Welt der Geheimdienste klar und eindeutig. In diesem Sinne ist «Decrypto», auch wenn es keine geheime Hintertürchen kennt, das Spiel zur Crypto-Affäre.

Hemmungen, über «Pandemie» zu schreiben

Es ist tatsächlich diese Affäre, die mich veranlasst hat, über «Decrypto» zu schreiben. Es hätte jedoch noch eine andere Aktualität gegeben, um auf Spiele hinzuweisen, die ebenso gut zu dieser gepasst hätte wie «Decrypto» zum Crypto-Skandal. Ich meine die Abwehr gegen die rasante Ausbreitung des gefährlichen Coronavirus. Bei den Spielen handelt es sich um die «Pandemie»-Gruppe, in denen wir in unterschiedlichen Rollen (Wissenschafterin, Ärzte, Logistiker usw.) tödliche Seuchen bekämpfen müssen. Sie gehören zu den herausragendsten Titeln in der Gattung der kooperativen Spiele.

Und trotzdem habe ich Hemmungen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt näher auf «Pandemie» einzugehen. Dies aus den folgenden Gründen: DIe Bedrohung ist real und darf nicht unterschätzt werden. Zudem gibt es Menschen, die vor einer Ansteckung echt Angst haben. Und solange es keine Anzeichen dafür gibt, dass die Verantwortlichen (Medizin, Behörden, Gesundheitswesen …) die Lage in den Griff bekommen, besteht weiterhin grosse Verunsicherung. Für mich ist das nicht unbedingt der Moment, mich als «Der Spieler» mit dem Thema zu befassen.

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Decrypto: Deduktionsspiel von Thomas Dagenais-Lespérance für 3 bis 8 Spielerinnen und Spieler ab 12 Jahren. Verlag Scorpion Masqué/ Asmodée (Vertrieb Schweiz: Swiss Games), Fr. 28.-


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.

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Spielen macht Spass. Und man lernt so vieles. Ohne Zwang. Einfach so.

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