Der Spieler: Das «gute alte» Brettspiel ist tot
Jüngst war ich in der »Arena« von WDR 2, der wöchentlichen Talkrunde mit Expertinnen und Experten, die sich über ein aktuelles Thema unterhalten. Zu den Erfolgsfaktoren dieser äusserst beliebten Radiosendung gehört, dass sich auch Hörerinnen und Hörer telefonisch zu Wort melden oder via Mail ihre Meinung abgeben können. Und das während zwei Stunden – gutes altes Radio, wie man in solchen Fällen sagt.
Es ging an diesem Mittwoch ums Spielen. Anlass war die »Spiel16« in Essen, die weltweit grösste Publikumsveranstaltung für Brett- und Gesellschaftsspiele. Das Thema war also gegeben: Spiele und Spielen. »Verlernen wir das Spielen?« hatten die Verantwortlichen als Titel über die Sendung gesetzt. Spannend und auch leicht provokativ zu einem Zeitpunkt, in dem über 170’000 Menschen Richtung Essen aufbrachen, um an einem oder mehreren der vier Messetage ihre Leidenschaft für Brett-, Karten- und Gesellschaftsspiele auszuleben. Also nix von Verlernen.
Meine Nackenhaare sträuben sich
Als Gast hat man sich dem Gastgeber gegenüber höflich zu verhalten. Ich wusste aber bereits vor der Sendung, dass ich mich für einmal nicht an diese Regel halten würde. Denn im Trailer war die Rede von den »guten alten Brettspielen« gewesen. Höre oder lese ich diesen Begriff, sträuben sich meine Nackenhaare. Warum diese Empfindlichkeit? Googlen Sie doch einmal »gut alt« bzw. »gute alte«. Dann finden Sie das »gute alte Brettspiel« in einer Reihe mit der »guten alten Heimat«, der »guten alten Zeit«, dem »guten alten Schnurtelefon«, dem »guten alten Schulwandbild«, dem »guten alten Sauerkraut« oder dem »guten alten Zelttuch 64«, dessen Verschwinden die Schweizer Pfadfinder nachtrauern. Die Reihe liesse sich unendlich fortsetzen.
Nostalgie verbindet sich mit solchen Begriffen, bisweilen auch Glorifizierung. In den guten alten Zeiten war doch alles besser. Aber ehrlich – war es das wirklich? Sind die »guten alten Gesellschaftsspiele«, wie »Mensch ärgere Dich nicht!«, »Dame«, »Gänsespiel« »Risiko«, »Spiel des Lebens«, »Scrabble«, »Malefiz« oder »Monopoly«, besser als »Siedler«, »Carcassonne«, »6 nimmt!«, »Codenames«, »Hanabi« oder »7 Wonders«? Wer den Begriff »gutes altes Brettspiel« im nostalgischen Sinn verwendet, hat zumindest die grossartige Entwicklung seit den 1980er Jahren in allen Bereichen des Karten-, Brett- und Gesellschaftsspiels für Kinder und Erwachsene total verpennt. Und wer ihn verwendet, weil er damit auch sagen will, dass die damit gemeinten Brettspiele altmodisch sind und entsprechend nur noch von Grosseltern mit ihren Enkelkindern gespielt werden, tut diesen »guten alten« Spielen Unrecht. Denn mit ihnen lernt man früh Grundmechanismen und -inhalte kennen, die in vielen neuen Gesellschaftsspielen wieder auftauchen. Die meisten Spielerbiographien zeigen eine Entwicklung vom Einfacheren hin zum Komplexeren und Anspruchsvolleren. Rechnenkönnen beginnt nun mal immer noch mit dem Beherrschen des Einmaleins und nicht mit Kurvendiskussionen. Auf das Spielen bezogen heisst das: Die Grundzüge eines Legespiels lernen Kinder oder spielungewohnte Erwachsene eher mit einem Domino als mit »Isle of Skye«, dem aktuellen »Kennerspiel des Jahres«.
Sind Spiele nur für Stubenhocker?
Für die WDR 2-«Arena« trifft die Kritik zwar nicht zu, aber es ist schliesslich auch möglich, dass man den Begriff »gutes altes Brettspiel« verwendet, um die damit verbundene Beschäftigung als etwas Altmodisches abzutun. Als etwas Überholtes, das dringend durch etwas Zeitgemässeres abgelöst werden müsste. Spielen ist für Stubenhocker, aber nichts für aufgeschlossene, moderne Menschen, die ihr Lebensgefühl lieber mit einer Shopping-Tour in London demonstrieren als mit einem spannenden Spielnachmittag in der Familie, der zum Einlaufen mit »Die fiesen 7« oder »Las Vegas« beginnt, mit »Karuba«, »Bohnanza« und »Agent Undercover« weitergeht und schliesslich mit »Ein solches Ding« oder »Heckmeck am Bratwurmeck« endet.
Das Brettspiel ist modern und lebt. Mit dieser Feststellung widersprach ich gleich in meiner ersten Wortmeldung dem sonst kompetenten Gesprächsleiter, nachdem auch er in der Anmoderation das Klischee vom »guten alten Brettspiel« verwendet hatte. Ich musste die Höflichkeitsregel verletzen und ihn korrigieren, damit dieses Bild nicht zwei Stunden lang über der Sendung hängen blieb.
Strotzen vor Vitalität
Das angeblich »gute alte« Gesellschaftsspiel strotzt heute vor Vitalität. Vorbei oder tot ist es nur in den Köpfen von Medienschaffenden. Unübersehbar ist nämlich, dass beinahe in jedem geschriebenen oder gesprochenen Beitrag zum Thema die Floskel »gutes altes Brettspiel« auftaucht (ausgenommen sind Spielrezensionen, Spieleblogs oder sonstige einschlägige Publikationen). Aus welchen Gründen das passiert, weiss ich nicht, ich kann es nur vermuten. Vielleicht ist es blosse Gedankenlosigkeit. Vielleicht mangelnde Recherche. Vielleicht fördert auch der uninspirierte Auftrag aus der Chefredaktion, angesichts der bevorstehenden Advents- und Weihnachtszeit sei es höchste Zeit, etwas über Spiele (mit den aktuellsten Trends, unbedingt!) ins Blatt zu bringen, nicht gerade die Lust, sich journalistisch mit einem höchst spannenden und modernen Thema auseinanderzusetzen.
Fairerweise ist am Schluss anzumerken, dass die WDR-Sendung unter dem Titel »Verlernen wir zu spielen?« sehr anregend war und zahlreiche Hörerinnen und Hörer dazu ermuntert hat, ihre Geschichten vom Spielen zu erzählen. Zwei Stunden lang zur besten Sendezeit, wie gesagt. Ob Radio SRF so etwas auch wagte? Wenn ja, bitte ohne das »gute alte Brettspiel« und ohne die Frage »Ob denn das traditionelle Spiel neben den elektronischen Spielen überhaupt noch Platz habe«. In diesem Fall müsste ich zum zweitenmal die in Gesprächsrunden geltenden Höflichkeitsregeln verletzen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt.