Der Spieler: Autobahn-Wirrwarr auf dem Tisch
«Generelle Projekte zur Umgestaltung des Autobahnanschlusses Wankdorf in Bern sowie zur Erweiterung der Nationalstrasse A1 auf der Strecke zwischen Schönbühl und Kirchberg» heisst das riesige Strassenbauprojekt, das in den nächsten vier Jahren praktisch vor meiner Haustüre realisiert werden soll. Der Volksmund hat den sperrigen Namen gleich ersetzt durch den wegen des wirren Durch-, Neben-, Über- und Untereinanders von Strassen naheliegenden Begriff «Spaghetti-Knoten».
Als die Landesregierung das Projekt vor kurzem verabschiedete und ich die entsprechenden Pläne anschaute, erinnerte ich mich an die Geschichte der beiden japanischen Spielautoren Naotaka Shimamoto und Yoshiaki Tomioka. Sie sollen beim Anblick des gigantischen Expressstrassennetzes in ihrer Hauptstadt Tokyo auf die Idee gekommen sein, ein Bau- und Geschicklichkeitsspiel zu entwickeln, das diesem mittlerweile über 300 Kilometer langen Verkehrskoloss nachempfunden sein sollte. Solches ist in der Spielanleitung zu «Tokyo Highway» nachzulesen.
Grosse Versuchung]
Das Spiel hat einen hohen Aufforderungscharakter. Hat man die recht grosse Schachtel geöffnet, ist die Versuchung gross, nach den Holzteilen zu greifen und ohne Blick in die Spielregeln gleich loszubauen. Strassenteile und Pfeiler – damit ist ja klar, worum es geht. Um Strassenbau, ums Kreuzen und Überqueren. Aber wozu verwendet man die niedlichen kleinen Holzautos und die silbergrauen massiveren Holzteile? Die Antwort liefert die Spielanleitung (die es also doch noch braucht): Die Holzteile stellen Hindernisse in Form von Gebäuden dar. Strassenbauer sollen – wie in der Realität – nicht einfach freie Bahn haben. Die Autos wiederum haben eine besondere Funktion: Jede Spielerin und jeder Spieler hat eine bestimmte Anzahl zur Verfügung. Sobald man eine gegnerische Strasse kreuzt, darf man ein Auto seiner Farbe auf die eigene Strasse stellen. Wer als Erster seine Autos auf diese Weise platziert hat, gewinnt das Spiel.
Mir gefällt an «Tokyo Highway» die optisch frische Aufmachung, die dem Spiel eine gewisse Leichtigkeit und Heiterkeit verschafft. Gut umgesetzt ist auch das Thema: Relativ schnell entsteht auf dem Tisch ein wirres Durcheinander von Strassen, wie es Highways auf der ganzen Welt eigen ist, sei es nun am Berner Wankdorf oder in Tokyo. Unbefriedigend ist leider die Spielanleitung, die nicht auf alle Fragen Antwort gibt. Und nicht ganz befriedigend ist für mich auch, dass das Spiel in der Regel bereits nach wenigen Zügen zu Ende ist.
Ohne Feinmotorik geht nichts
Wofür «Tokyo Highway» nichts kann: Es polarisiert, weil es sich nicht für Menschen eignet, die über zwei linke Hände verfügen. Wenn man an Geschicklichkeitsspielen so richtig Spass haben will, braucht man eine ausgeprägte Feinmotorik. Wer weniger geübt oder begabt ist, fühlt sich schnell ausgeschlossen. Das Gefühl, gegenüber Könnern keine Chance zu haben, wirkt frustrierend, was ja nicht Sinn des Spielens ist, im Gegenteil. Aus diesem Grunde auch würde ich «Tokyo Highway», das von den Ansprüchen her ein gutes Familienspiel ist, nicht auf den Tisch bringen, wenn Ältere in der Runde sind.
Geschicklichkeitsspiele sind sehr attraktiv. Sie befriedigen optische und haptische Bedürfnisse. So vermitteln sie Erlebnisse, die wir Menschen als positiv empfinden. «Tokyo Highway» ist da keine Ausnahme. Hinzu kommt bei allen dreidimensionalen Spielen dieser Art das emotionale Element der Spannung: Hält die Konstruktion? Darf ich noch mehr riskieren? Wesentlich scheint mir in diesem Zusammenhang, dass es jeweils die ganze Runde packt, und nicht nur mich als Spieler, der ich gerade an der Reihe bin. Gemeinsames Mitfiebern, Mitfreuen über einen gelungenen Zug, Mitleiden bei einem krachenden Einsturz, Schadenfreude über einen allzu gewagten Konstruktionsversuch – all das trägt zu einem tollen Spielerlebnis bei.
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Tokyo Highway: Taktisches Bau- und Geschicklichkeitsspiel von Naotaka Shimamoto und Yoshiaki Tomioka für 2 bis 4 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Verlag Asmodee/Itten Games, Fr. 47.-
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker Synes Ernst war lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.