Salginatobelbruecke

© RAMA

«Beton bricht, Eisen rostet und die Theorie ist hinfällig.»

Hans Ulrich Jost /  Nach dem Einsturz der Autobahn-Brücke in Genua weiss der Historiker: Das Problem ist nicht neu. Jede Technik hat ihre Tücken.

Der Eisenbeton sei, erklärte 1921 Professor Mirko Ros, eine Missheirat: der Beton breche, das Eisen roste, und die Theorie sei hinfällig. Ros war ab 1924 Direktor der an der ETH in Zürich eingerichteten Anstalt für die Prüfung von Baumaterialien, die später in Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA) umgetauft wurde.

Diese harsche Disqualifizierung des Eisenbetons gehört zum – damals schon seit zwanzig Jahren dauernden – Streit von Fachleuten, Politikern und Heimatschützern über die Zuverlässligkeit und die ästhetische Qualität des Eisenbetons. Nachdem 1892 der Franzose François Hennebique (1842-1921) ein entsprechendes Patent deponiert hatte, fand diese neue Technik auch in der Schweiz ihre Anhänger. Der Lausanner Ingenieur Samuel de Mollins (1845-1912) lud schon im September 1893 Politiker, Fachleute und Journalisten zur Besichtigung einer Eisenbetonkonstruktion ein, mit der er die Sicherheit und Tragfähigkeit der neuen Bauweise demonstrieren wollte. Der Betonbau kam dann in der Tat relativ rasch voran. 1895 erlaubten die Städte Lausanne, Genf, Zürich, Basel und Sankt-Gallen die Anwendung von Beton gemäss dem Prinzip von Hennebique. In Zürich wurde 1899 eine der ersten Betonbrücken (nicht Eisenbeton), die heute unter Denkmalschutz stehende Stauffacherbrücke, gebaut. Um die ästhetischen Empfindlichkeiten der Bevölkerung nicht zu verletzen, wurde der Beton hier allerdings mit Granit und Sandstein verkleidet.

Mit den Betonbauten nahmen auch die Debatten und Polemiken über die Sicherheit solcher Konstruktionen rasch zu und beschäftigten selbst die Tagespresse, insbesondere wenn, wie 1901 in Basel, eine Betonkonstuktion schon während des Baus zusammenbrach und mehrere Arbeiter in den Tod riss. 1905 geschah beim Bau des Stadttheaters Bern ein ähnliches Unglück, bei dem ebenfalls mehrere Arbeiter umkamen. Angesichts dieser Probleme und um das Publikum zu beruhigen betraute man den ETH-Professor Karl Wilhelm Ritter und François Schüle, den Vorgänger von Ros an der Spitze der EMPA, mit wissenschaftlichen Gutachten. Die Eidgenossenschaft schuf schliesslich 1906 eine Kommission, in der Vertreter der ETH, des Schweizerischen Städteverbandes, des Syndikats der Zementindustrie und des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins SIA Einsitz nahmen.

Ich möchte jedoch im Folgenden nicht die sehr weitläufige Geschichte des allgemeinen Betonbaus weiter verfolgen und nur auf eine Sparte der Anwendung des Eisenbetons eingehen: den Brückenbau. Im 19. Jahrhundert waren neben klassischen Steinbauten vor allem Eisenkonstruktionen in Mode gekommen. Die Betonbrücken mussten sich vorerst gegen diese Eisenkonstruktionen durchsetzen. Die Einstürze von Metallbrücken gaben den Anhängern des Eisenbetons – dazu gehörten auch die Zementhersteller – die Gelegenheit, ihre Technik als überlegen und sicherer anzupreisen. Ein oft zitiertes Beispiel war der Zusammenbruch der Eisenbahnbrücke bei Münchenstein (14. Juni 1891), bei dem 70 Passagiere des in den Abgrund stürzenden Zugs den Tod fanden.

Auch die Ästhetik gab viel zu reden

Neben den Unternehmern, Fachleuten und Politikern meldeten sich in diesen Auseinandersetzungen auch Vertreter des damals rasch aufkommenden Heimatschutzes zu Wort. Die Aktivisten dieser Bewegung kritisierten zwar sowohl die Eisen- wie die Betonkonstruktionen, die ihrer Ansicht nach nicht in die traditionelle Landschaft und in die Welt von Naturstein- und Holzbauten hineinpassten. Einer der Wortführer des Heimatschutzes, der katholisch-konservative Georges de Montenach, entwickelte hingegen einen Kompromiss in Bezug auf Betonkonstruktionen. Er sah in diesem Material eine Art Verwandtschaft zum Naturstein, das sich besser als Eisen in die Berglandschaft einfüge. 1915 kommentierte der Heimatschutz jedenfalls schon positiv die Verwendung von Beton beim Bau der Eisenbahnlinie Chur-Arosa.

Damit kam in der Schweiz der Bau von Eisenbetonbrücken zum Durchbruch. Der zuletzt weltweit bekannte Schweizer Ingenieur Robert Maillard (1872-1940) – er war schon beim Bau der Stauffacherbrücke in Zürich dabei – entwickelte neben verschiedenen Betonbautechniken auch eine neue Form eleganter Brücken. Seine diesbezügliche Tätigkeit begann 1901 mit einer Brücke bei Zuoz, gefolgt 1904 von der technisch beispielhaften Tavanasabrücke (Graubünden). Insgesamt war er am Bau von rund 200 Brücken beteiligt. Herausragend in dieser Palette von Bauten ist die 1929/30 auf der Strecke zwischen Schiers und Schuders errichtete Salginatobelbrücke, die die American Society of Civil Engineers in den Rang der weltweit bedeutendsten Konstruktionen hob. Die umfassende Sanierung dieser Brücke in den Jahren 1997/98 zeigt jedoch, dass auch solche ausgefeilte Bauten kontrolliert und renoviert werden müssen.

Die Erfolgsgeschichte der Schweizer Eisenbetonbrücken darf nicht vergessen lassen, dass der Eisenbeton tatsächlich nicht immer gut altert. Mirko Ros’ Bemerkung, der Beton breche, das Eisen roste, und die Theorie sei hinfällig, hat seine Gültigkeit nicht ganz verloren. Es war deshalb gewiss auch umsichtig, dass der Bundesrat schon 1906 eine Fachkommission ins Leben rief, um die Schwächen der Eisenbetonkontruktion in den Griff zu bekommen.

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Dazu ein Hinweis für die Fachleute:

H.U. Jost, Aspects sociaux et culturels dans l’avènement du béton armé en Suisse. In: Cédric Humair, Hans Ulrich Jost (dir.), Prométhée déchaîné: Technologie, culture et société helvétiques à la Belle Epoque, Les Annuelles 11/2008, Lausanne, Antipodes, 67-86.
H.U. Jost, The Introduction of Reinforced Concrete in Switzerland (1890-1914): Social and Cultural Aspects. In : Construction History Society, CHS Newsletter, Nr. 75, November 2006.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Hans-Ulrich Jost ist Prof. em. der Universität Lausanne. – Es gibt keine Interessenkollisionen.

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4 Meinungen

  • am 19.08.2018 um 12:29 Uhr
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    Ein möglicher Grund für den Brücken-Einsturz in Italien: Schrägseil-Brücken + vorgespannte Brückenplatten aus den 60-er ¦ 70-er-Jahren wie bei der eingestürzten Brücke in Genua sind deshalb ein Problem, weil ua Schweizer Bauingenieure (damals führend im Umgang mit Seilen) bei den statischen Berechnungen von grob falschen Annahmen zu den Material-Eigenschaften ausgingen.
    – Ein bekannter Schweizer Stahlbau-Professor machte seine Kollegen an der ETH damals Welt-weit erstmals auf ihre falschen Annahmen aufmerksam.
    — Nach harten theoretischen Auseinandersetzungen einigten sie sich in meiner Erinnerung auf eine Reduktion der Tragfähigkeit von Vorspann-Seilen auf 57 % (von ursprünglich 100 % !!), welche sich erst mit dem Gebrauch absenkt.
    — In der Folge mussten viele Schweizer Autobahn-Brücken erneuert werden. Das geschah ohne Benachrichtigung der Öffentlichkeit + kostete Milliarden.
    – Technik braucht grundsätzlich eine kritische Haltung bei jeder Neuerung mit einer umfassenden Überprüfung der Annahmen. Ob dieser Grundsatz bei dieser Brücke zu kurz + die Verstärkungen zu spät gekommen sind?

  • am 19.08.2018 um 13:01 Uhr
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    Der Vorteil einer reinen Hängebrücke mit Stahlseilen oder Kettengliedern besteht darin, dass diese offenliegen und auch wenn bemalt, Korrision mehr oder weniger sichtbar wird. Wie die fast 200-jährige Menai Bridge des Ingenieurs Telford in Wales, die ich ein Jahr lang täglich benutze. Ausserdem werden sie rein auf Zug belastet.

    Bei der nun eingestürzten Brücke waren die Zugstränge vermutlich nicht überprüfbar in Beton eingepackt, welcher vermutlich salzhaltige Gischt durch feinste Risse eindringen lies. Ich habe beim Wohnen am Meer erlebt, wie schnell Eisen rosten kann, so schnell wie wir uns das in der Schweiz gar nicht vorstellen können.

    Der Laie vermutet also diese Kombination als die grundlegende Ursache.

  • erich_schmid
    am 19.08.2018 um 17:06 Uhr
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    Nebenbei: Wer sich besonders für die Ästhetik des Brückenbaus interessierte, war unter anderen Max Bill, der die Brücke bei Tamins GR über das Lavinatobel nach den statischen Berechnungen von Mirko Robin Ros (vermutlich der Sohn von Mirko Ros, der mit Robert Maillart befreundet war) 1966/67 gestaltet hat. Max Bill hatte während des 2.Weltkrieges die erste grosse (dreisprachige) Publikation über den legendären Brückenbauer Robert Maillart mit Fotos seiner Brücken zusammengestellt. Da Papiermangel herrschte und diese Brücken unter besonderer militärischer Beobachtung standen, konnte das Buch erst 1949 publiziert werden. Es umfasst Maillart-Bauten von der Inn-Brücke bei Zuoz (1901) bis zur Strassenüberführung Altendorf-Lachen (1940).

  • am 19.08.2018 um 22:29 Uhr
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    Sehr guter Artikel,
    schade das nicht tiefer auf die Carbonatisierung (Mangelnde Betondicke zum Eisen, so dass es schnell rostet) eingegangen wurde.
    Dem Betonboom der Nachkriegszeit folgte wegen diesem Problem der Kater. Viele CH-Brücken und Gebäude mussten in den 90er aufwändigst saniert werden.
    Die Zement-Lobby war in den letzten Jahren sehr erfolgreich, so müssen schon einfachste Einfamilienhäuser wegen «Erdbebengefahr» betoniert werden.
    Zudem soll Beton ja ökologischer sein als Holz (Graue Energie) mit der Begründung es könnte ja wieder verwendet werden. (als Beton geht es später jedenfalls nicht mehr).

    @infosperber
    Sie sollten ein Artikel schreiben über die Privatisierung von Autobahnen in DE und Italien.

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