Ein Atlas gegen weltwirtschaftliche Tabus
Wie hohe Schulden sind auch hohe Geldvermögen ein Problem
Wer Staatsschulden für «gefährlich hält, weil sie künftige Generationen belasteten, der muss zwangsläufig auch das Geldvermögen der Privaten für eine Belastung künftiger Generationen halten». Die Aussage dürfte Erstaunen oder gar ungläubiges Kopfschütteln auslösen. Erst recht, weil die Aussage von zwei Ökonomen und einer Ökonomin stammen. Staatsschulden und Vermögen als gleich grosse Last für die Zukunft zu bezeichnen,– das ist nur eines von manchen Tabus, an das Heiner Flassbeck, Friederike Spiecker und Stefan Dudey in ihrem gemeinsam publizierten «Atlas der Weltwirtschaft 2020/21» rühren.
Doch erstaunlich ist eigentlich weniger die These als vielmehr die landläufige Ignoranz vieler Ökonomen, darüber nachzudenken. Denn dahinter steckt die einfache Gleichung, «die Summe aller Schulden ist identisch mit der Summe aller Geldvermögen». (Seite 69) Hohe Schulden, wie sie regelmässig beklagt werden, entsprechen somit hohen Geldvermögen. Oder wie es Flassbeck, Spiecker und Dudey formulieren: «Wenn in den Medien davon die Rede ist, auf der Welt lasteten Verbindlichkeiten in Höhe von 300 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung, müsste im gleichen Atemzug auch darüber berichtet werden, dass auf der Welt Geldvermögen in Höhe von 300 Prozent des Bruttoinlandprodukts lasten.» Oder: «Wer gegen Schulden ist, ist auch gegen Geldvermögen.» (Seite 61)
Wie es einst war
Im Kapitel «Wer spart und wer verschuldet sich bei wem?» geht es um mehr als nur um aufsummierte Schulden und Geldvermögen. Es werden die Veränderungen über die letzten 50 Jahre untersucht und mit vielen Grafiken leicht verständlich gemacht. Wer verschuldet sich, wer spart? Wie war das in den 30 glorreichen Jahren des Nachkriegs-Kapitalismus und wie ist es jetzt? Der Unterschied ist frappant und wirtschaftspolitisch höchst relevant – auch deshalb, weil sich von Deutschland über Frankreich, Italien, Spanien, Portugal oder die Niederlande bis zu Japan und den USA der gleiche Trend feststellen lässt.
Im 30-jährigen Nachkriegsboom standen sich die privaten Haushalte als Sparer und die Unternehmen als Schuldner gegenüber. Die Staaten verhielten sich in der Regel «neutral». Einzig in rezessiven Ausnahmesituationen leisteten sie sich Defizite, um die Wirtschaft wieder in Gang zu setzen.
Wie ist es jetzt?
Inzwischen ist es längst anders. Konkret beispielsweise in Deutschland: Bis Mitte der 1975 Jahre verschuldete sich der damalige Westdeutsche Staat nur in kurzen Phasen der Rezession, als die Unternehmen weniger investierten und deshalb weniger Kredite als üblich aufgenommen hatten. Insbesondere seit 2003 sieht es ganz anders aus. Die Unternehmen verschulden sich nicht mehr. Für ihre Investitionen sind sie nicht mehr auf Kredite angewiesen. Sie finanzieren sie aus ihren Gewinnen. Und da sie im Vergleich zur Nachkriegsperiode nur spärlich investieren, wächst die Wirtschaft nicht mehr wie einst. Das gilt auch für Frankreich, Italien, Japan, die USA und andere Länder. Hinzu kommt, dass die Entwicklung nicht mehr stetig verläuft wie noch im Nachkriegsaufschwung. Kriseneinbrüche mit wachsender und hoher Arbeitslosigkeit haben sich gehäuft.
Da kommen die Staaten ins Spiel. Sie springen ein, absorbieren die Ersparnisse der privaten Haushalte. Damit verhindern sie Rezessionen bei gleichzeitig wachsender Schuldenlast. Oder im Falle Deutschlands, der Niederlande oder auch der Schweiz halten sie das Wachstum durch hohe Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber dem Ausland in Gang. Diese Länder profitieren davon, dass sich andere Länder bei ihnen verschulden.
Zinsmechanismus ausser Betrieb
Weil sich die Volkswirtschaften gemessen am Bruttoinlandprodukt nicht mehr so entwickeln wie einst, spielt auch der Zinsmechanismus nicht mehr so, wie es die Lehrbücher versprechen. Die Atlas-Autorin und Autoren legen im Kapitel «Arbeitet das Geld nicht mehr? Zinsen im Rekordtief» dar, warum «ausgerechnet der Neoliberalismus das Ende jener Wirtschaftswelt zu verantworten» hat, in der Sparer positive Zinserträge erwarten konnten. Das wiederum habe mit dem Lohndruck zu tun bzw. damit, dass die Löhne nicht mehr als «unverzichtbarer Schlüssel zu erfolgreicher Wirtschaftsentwicklung» gesehen würden, wie im Kapitel «Warum brauchen wir Lohnpolitik?» erklärt wird. Und für manche wohl provozierend wird erklärt, dass die verbreitete Meinung falsch sei, niedrige oder sinkende Löhne seien ein probates Mittel zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit.
Damit wird im Atlas auch die Verteilungsfrage angesprochen, die inzwischen selbst der Internationale Währungsfonds und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit OECD als gravierendes Problem und als eine Ursache für die Krisenanfälligkeit der wirtschaftlichen Entwicklung ansehen. Als Gegenstück zur hohen Staatsverschuldung hätte sich ein Kapitel über die wachsende Konzentration des Reichtums in der Welt geradezu aufgedrängt. Wo ballt sich das Geldvermögen als Gegenstück zur wachsenden Verschuldung? Doch dieses Kapitel fehlt. Der statistische Blick auf die «dramatische Ungleichheit» wird erst für eine Folgeausgabe versprochen.
Sparen, Schulden, Zinsen, Lohnpolitik und weitere Themen wie Aussenhandel, Arbeitslosigkeit, Wechselkurse und andere mehr mögen den Eindruck erwecken, als sei der Blick im «Atlas der Weltwirtschaft» eng gefasst. Als sei er geprägt durch überkommene Denkkategorien, nicht wahrnehmend, dass die Globalisierung und der weltweite Ressourcen-Verzehr die Welt längst an den Abgrund geführt hat und deshalb die «Zahlen, Fakten und Analysen zur globalisierten Ökonomie» durch eine radikale Sicht auf das herkömmliche Wachstumsdenken geprägt sein sollten.
Ökonomie und Ökologie versöhnen
Die Atlas-Autorin und -Autoren sehen Makroökonomie und Klimawandel aber nicht als Gegensätze, fordern denn auch im letzten Kapitel «Kohle, Öl und Erdgas müssen überall auf der Welt im Boden bleiben». Den Hebel dazu sehen sie «in der stetigen und zügigen weltweiten Verteuerung fossiler Brennstoffe». Nur dann gelinge die erforderliche Dekarbonisierung der Weltwirtschaft.
Ökonomie und Ökologie müssten sich versöhnen. Doch ohne erfolgreiche Wirtschaftspolitik im globalen Rahmen gebe es auch keine erfolgreiche Klima- und Umweltpolitik, meint der Atlas-Autor Heiner Flassbeck im ebenfalls jüngst erschienenen Buch «Der begrenzte Planet und die unbegrenzte Wirtschaft».
Zwischen den Fronten
Dabei setzt er sich gehörig in die Nesseln bzw. zwischen die Fronten von Klimawandel-Kritikern und -Verharmlosern. Den Kritikern widerspricht er mit: «Die ökologische Frage ist keine Systemfrage». Selbst als radikaler Kritiker des Neoliberalismus huldigt Flassbeck sogar dem geistigen Übervater der Neoliberalen, Friedrich August von Hayek, als einem der gründlichsten Denker über die marktwirtschaftlichen Prozesse (Seite 81) und meint: «Man kann den Kapitalismus leichter umsteuern als jedes andere System, die bisher erprobt wurden.»
Ebenso eindeutig markiert Flassbeck Distanz zur entgegengesetzten Front: «Gegner sind auch… die gegenwärtig produzierenden Unternehmen.» Und dezidiert meint er, der Markt brauche staatlich gesteuerte Preisentwicklungen, weil er sonst die Lösung der ökologischen Krise verhindere. Hier liege das Versagen der globalen Klimapolitik. Es werde nicht einmal über stetig steigende Preise auf Erdöl, Gas und Kohle verhandelt, obwohl ohne sie die Dekarbonisierung und Umsteuerung der globalen Wirtschaft nicht machbar sei.
Weder Heiner Flassbeck in seinem Buch noch der von ihm mitverfasste Atlas der Weltwirtschaft ordnen sich in gängige Denkmuster ein. Die «Zahlen, Fakten und Analysen zur globalisierten Ökonomie» im Atlas rücken Trends grafisch leicht lesbar ins Bild, die manch andere Berichte voller Daten «übersehen». Für die Debatten, wie Wirtschaftspolitik betrieben werden sollte, ist der Atlas sehr nützlich zum Nachschlagen und zum Überdenken gängiger Wirtschaftspolitik.
Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors
Keine.