Kommentar

Mit subversiver Freundlichkeit gegen die Weltsportgaukler (2)

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsKeine. Walter Aeschimann war Redaktor bei Tamedia und beim Schweizer Fernsehen. Er publiziert seit 30 Jahren ©

Walter Aeschimann /  Die Welt-Anti-Doping-Agentur ist 20 Jahre alt. Der Gründungszweck war, Dopingpraktiken zu verhüllen. Ein Rückblick – Teil 2.

An den Olympischen Sommerspielen von München 1972 wurden erstmals standardisierte Dopingproben vorgenommen. Im Kontroll-Labor versammelte sich die Weltelite der Doping-Spezialisten (siehe Teil 1 des Artikels). Somit war das Muster für die spätere WADA-Gründung vorgegeben. Die Oberdoper definierten auch den Anti-Doping-Kampf. Sie kontrollierten ihre eigenen, verbrecherischen Tätigkeiten. Kein Wunder, dass sie nichts zutage förderten. Obwohl damals die meisten Athleten Anabolika-Pillen unter dem Handelsnamen Dianabol wie Bonbons schluckten.

Die Spiele von 1972 erfuhren eine weitere Zäsur. Hatten ab den 1920er-Jahren allgemein praktizierende Sportmediziner Doping und Anti-Doping definiert, verloren sie nun ihre Vormachtposition. Neue Expertengruppen drängten sich in den Vordergrund. Fortan war das Fachwissen von Biochemikern gefragt. Das brachte in den 1980er-Jahren Figuren wie Francesco Conconi und seinen Schüler Michele Ferrari an die Spitze der internationalen Doperszene – und somit des Anti-Doping-Kampfes. Conconi erforschte jahrelang im Auftrag des IOC das Dopingmittel Erythropoetin (EPO). Vordergründig, um Testprogramme zum Nachweis von EPO zu entwickeln. In Wahrheit entwarf er Dopingprogramme für verschiedene Athleten. Der berühmteste war wohl der italienische Radprofessional Francesco Moser.
Ferrari perfektionierte das System, machte 30 Millionen Euro Umsatz und versorgte bis zu 50 Doping-Kunden, zuletzt den US-Radprofessional Lance Armstrong. Gegen Conconi und Ferrari wurden gegen Ende der 1990er-Jahre erste Ermittlungen aufgenommen. Die Anklagepunkte lauteten: kriminelle Vereinigung, Verstoss gegen das Medikamentengesetz, Urkundenfälschung, Unterschlagung, Amtsmissbrauch und sportlicher Betrug durch Doping. 2003 wurden aus formalen Gründen alle Anklagepunkte zurückgewiesen oder wegen Verjährung eingestellt. Im April 2017 wurde Ferrari am Landgericht Bozen wegen Beihilfe zum Doping im Fall des Biathleten Daniel Taschler zu einer Haftstrafe von einem Jahr und 6 Monaten auf Bewährung und einer Geldstrafe von 4500 Euro verurteilt.
Grösste Anti-Doping-Show des IOC
Um glaubwürdig zu erscheinen, erforderte der fiktive Anti-Doping-Kampf des IOC auch in der Vor-WADA-Zeit sporadisch spektakuläre Aktionen. Im Jahr 1988 veranstaltete das IOC die bisher grösste Anti-Doping-Show. An den Olympischen Sommerspielen in Seoul präsentierte es den Kanadier Ben Johnson als Dopingsünder. Er war der schnellste Sprinter, aber ohne sportpolitische Lobby – und Stotterer. Für das IOC und die Weltsport-Industrie war er kein positiver Imageträger – und das ideale Doping-Opfer.

Der zweite Störfall, bei dem die Weltsportgaukler komplett den Überblick verloren – und der schliesslich zur Gründung der WADA führte – geschah am 8. Juli 1998. Es war morgens um 06.30 Uhr. Willy Voet biegt mit seinem Fiat auf die Departementstrasse 78 ein und steuert in Belgien den kleinen Grenzübergang in Neuville-en-Ferrain an. Voet ist Betreuer der professionellen Radequipe Team Festina und unterwegs nach Calais, wo er die Fähre nach Dublin bekommen muss. Dort startet drei Tage später die Tour de France mit dem Festina-Team um Richard Virenque und den Schweizern Alex Zülle und Laurent Dufaux. Wie immer hat Voet für die Grenzbeamten Team-Trikots und Radmützen als nettes Mitbringsel zurechtgelegt. Aber diesmal wird der Belgier angehalten. Sein Wagen wird gefilzt und Voet erbleicht. Die Zöllner finden im Kofferraum tiefkühlende Pharmakisten mit 236 Ampullen EPO, 82 Packungen mit Wachstumshormonen, Testosteron-Präparate, Amphetamine und Corticoide.
Voet wird in Lille inhaftiert. Patrick Keil hatte zufällig als Untersuchungsrichter Dienst. Er behandelte die Festnahme als ganz normales Drogen-Delikt. Er ging korrekterweise von einem Verdacht auf Drogenhandel aus und verkannte das sportpolitische Potential. Die Neuigkeiten vom belgisch-französischen Grenzort erreichten auch Dublin. Virenque sagte, auf Voet angesprochen: «Ich bin nicht verantwortlich für Dinge, die unser Personal tut.» Die Renndirektion und die Professionals waren vorerst zuversichtlich, dass sich die Angelegenheit durch nette Gefälligkeiten gegenüber Justiz und Politik regeln liesse. Wie immer in den vergangenen Jahren, wenn im Umgang mit Drogenpräparaten ein Missgeschick passierte.
Das totale Chaos, live am TV-Apparat
Keil waren derartige Machenschaften fremd. Er arbeitete unverdrossen weiter. Razzien förderten bei fast allen Teams das ganze Sortiment leistungssteigernder Pharmaka zu Tage. Fahrer und Betreuer werden festgesetzt. Die Teams von ONCE, Banesto, Riso Scotti, Kelme und Vitalico fahren heim. Die Fahrer streiken. ONCE-Teamchef Manolo Saiz sieht die Menschenrechte «vergewaltigt». Das US-Postal-Team spült im letzten Moment ihre Medikamente in die Toilette, als sich die Polizei auch ihrem Teamhotel näherte. Die niederländische TVM-Mannschaft flieht während des Tour-Abstechers in die Schweiz aus dem Peloton. Am Ende der Tour 1998 landen fast mehr Fahrer im Gefängnis als hinter der Ziellinie. Nur 96 von 198 gestarteten Fahrern erreichten am 2. August 1998 die Pariser Champs Elysées. Auf Platz eins der Italiener Marco Pantani, auf Platz zwei der Deutsche Jan Ullrich. Die Ereignisse entsprachen keinem PR-Szenario. Konventionen und Absprachen verloren jede Gültigkeit. Das totale Chaos, live am TV-Apparat. Weitere Untersuchungen spülten auch umfangreiche Dopingpraktiken im Fussball hoch.
Wiederum reagierte das IOC hektisch. Schon am Mittwoch, 10. November 1999, wurde in Lausanne die Welt-Anti-Doping-Agentur gegründet. Der Gründungsakt fand am Sitz des IOC in Lausanne statt. Auf der ersten Doping-Weltkonferenz vom 2. bis 4. Februar 1999 in Lausanne wurden die Details vorbereitet. Die Konferenz verabschiedete eine so genannte «Lausanne Declaration on Doping in Sport». Sie war das Fundament zur Schaffung einer «unabhängigen» internationalen Anti-Doping-Agentur. Gemäss der Deklaration ist der Zweck der WADA, «den Kampf gegen Doping im Sport international zu fördern und zu koordinieren».
Wer die erste WADA-Führungsriege war, haben wir im ersten Teil des Artikels schon vernommen. Kein Wunder, dass sich Dopingsysteme weiterhin ungehindert etablieren konnten. Die grossen Dopingskandale in der WADA-Zeit, wurden nur publik, weil Whistleblower sich an die Medien wandten.

  1. Eufemiano Fuentes, ein spanischer Gynäkologe, belieferte Radsportler, Leichtathleten und Fussballspieler mit individuell designten Dopingdrogen. Die WADA hat nie eingegriffen. Nach zwei Jahrzehnten, im Mai 2006, wurde die Spanische Polizei aktiv, als der öffentliche Druck zu gross geworden war.
  2. Die WADA liess auch das Unternehmen Bay Area Laboratory Co-Operative, kurz Balco, südlich von San Francisco zu. Beim Hausherrn Victor Conte sollen ab 1988 die Leistungsträger des US-amerikanischen Sports ein- und ausgegangen sein. Sie haben Pillen oder Pülverchen aus der Balco-Werkstatt geschluckt, vor allem das Designer-Steroid Tetrahydrogestrinon (THG). Ab August 2002 nahm die US-Staatsanwaltschaft erste Ermittlungen auf.
  3. Dem russischen Dopingsystem war die WADA nicht einmal nachgegangen, als ihr Hinweisgeber im Jahr 2014 knallharte Dokumente lieferte. Im Gegenteil. Die WADA verriet die Hinweisgeber an die Russen.

Ähnlich ging die WADA mit Wissenschaftlern um, die seriöse Arbeit lieferten. Man hat sie verraten. Der Deutsche Sportmediziner Perikles Simon war von 2009 bis 2013 Mitglied im sogenannten Gene Doping Pannel der WADA. In dieser Funktion war er auch mit WADA-Studien mandatiert. In einer Studie war er auf Kontrolldaten der nationalen Anti-Doping-Agenturen angewiesen. Von den weltweit 127 Anti-Doping-Agenturen hatten viele nicht einmal Kontrolldaten archiviert. Dies war ein Verstoss gegen Artikel 14.4. des WADA-Kodexes. Einer zweiten Anfrage kamen nur 32 Agenturen nach. Sie lieferten Daten von «überwiegend fragwürdiger Qualität. Befriedigende Datenqualität, so dass man zumindest überprüfen konnte, wie viel Prozent der Trainings- und der Wettkampfkontrollen denn letztlich zu Sperren führen, kamen nur von fünf Agenturen» (Simon).
Der Kampf gegen die Horror-Clique
Seine letzte Forschungsarbeit im Auftrag der WADA führte zugleich zum Bruch. Simon und ein Team von Wissenschaftler befragten im Jahr 2011 bei der Leichtathletik-WM und bei den Pan-Arabischen-Spielen 2167 Teilnehmer. Ihnen war Anonymität zugesichert worden. Die zentrale Frage lautete: Habt ihr vor den Wettkämpfen gedopt? 45 Prozent der Befragten gaben an, dass sie dopen würden. Gar 70 Prozent gaben zu, dass sie Ergänzungs-Mittel nehmen würden, die (noch) nicht auf der Dopingliste stünden. Die Wissenschaftler schätzten diese Zahlen als «konservativ-vernünftig» ein. Die WADA und der Internationale Leichtathletikverband verhinderten indes die Veröffentlichung. Einzelne Ergebnisse der Studie «Doping in Two Elite Athletics Competitions Assessed by Randomized-Response Surveys» wurden im August 2017 in der Zeitschrift «Sports Medicine» publiziert.

Simon zog sich 2017 aus den Medien und der WADA zurück. In einem offenen Brief attackierte er das WADA- und Weltsportsystem: «Dieser Anti-Dopingkampf kann und wird nur zu Feigenblattsanktionen und Feigenblattnachweisen führen, die hüben wie drüben letztlich dazu dienen, die ‹Jugend der Welt› für das zu bestrafen, was die Alten, Schwachen, Habgierigen und Machthungrigen verbockt haben.» Am Schluss des Briefes bemängelte er explizit die «isolierte» Kritik «gegen russische Sportler». Er ging gar so weit zu denken, «dass ein staatlich gelenktes Doping ein recht wahrscheinlich ‹gesünderes Doping› ist als das Doping, welches viele Westathleten mit ihrem Körper bereits angeblich freiwillig gemacht haben».

Mit Simon hat sich einer der letzten glaubwürdigen WADA- und Weltsport-Kritiker, die das System von innen kannten, medial zurückgezogen. Was bleibt zu tun? Rückzug ist keine Option. Die Weltsportgaukler aus dem System zu werfen, wird jedoch schwierig sein. Aber, angelehnt an den «Republik»-Text von Constantin Seibt über die «Trollpolitiker» westlicher Demokratien: Wer den Sport liebt, muss den Kampf gegen die Horror-Clique im Weltsport mit entschlossener Klarheit und Freundlichkeit stets aufs Neue führen.
Und wachsam sein, wenn sie von ihren Doping-Tricks ablenken.
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Lesen Sie hier den 1. Teil des Artikels

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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Walter Aeschimann war Redaktor bei Tamedia und beim Schweizer Fernsehen. Er publiziert seit 30 Jahren kritisch zum Thema Doping.

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Eine Meinung zu

  • am 15.01.2020 um 13:25 Uhr
    Permalink

    Was ich nicht verstehe ist, dass derart viel Aufhebens diesem Doping gegenüber gemacht wird. In unserer «Superleistungsgesellschaft» stehen uns Mittelchen für alles Mögliche zur Verfügung. Etwas zum wachbleiben, etwas zum einschlafen, etwas was «Flüügel» verleiht oder was dem Vergessen dient. Etwas was uns daran hindert im Nachhauseweg auf der Autobahn einzuschlafen oder chemisch zu ergänzen, was der Körper im Fastfood nicht findet. Etwas was hilft die Prüfung zu bestehen, etwas gegen die Depression wenn etwas schief läuft. Der Sport hat mit Körperertüchtigung allenfalls noch auf dem dörflichen Sportplatz oder der Turnhalle zu tun. Die obere Liga dient ausschliesslich dem Scheffeln von Geld. Weshalb also sollen SportlerInnen nicht alles zu sich nehmen dürfen, was ihnen dabei hilft eine Tausendstelssekunde schneller im Ziel zu sein als die Konkurrenz oder ein paar Millimeter höher zu springen als alle anderen. Das Gesundheitsargument ist im Spitzensport sowieso ein Witz, denkt man an die zahlreichen Verletzungen und Spätschäden welche die ProfiathletInnen in Kauf nehmen.

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