Kommentar
Mit subversiver Freundlichkeit gegen die Weltsportgaukler (1)
Das Wichtigste bei Zaubertricks ist gezielte Ablenkung.
Ablenkung beherrschen die Gaukler des Weltsports brillant. Im November 2019 verkündeten sie bedeutungsschwer, dass nächstens ein wichtiges Urteil erlassen werde. Das versetzte die Medien in helle Aufregung – bis PR-Kanäle des Weltsports am 9. Dezember 2019 sinngemäss folgende Information verbreiteten. Das Exekutivkomitee der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) in Lausanne verhängte gegen Russlands Sportnation eine Sperre von vier Jahren. Die Sanktion wurde ausgesprochen, weil das russische Doping-Kontrolllabor mehrmals Daten manipuliert oder gelöscht haben soll. Die Sperre bedeutet formal, dass Russland in diesem Zeitraum an keinem sportlichen Grossereignis wie Olympischen Spielen, Paralympics sowie Weltmeisterschaften teilnehmen oder solche Veranstaltungen ausrichten darf. Russische Einzelsportler dürften jedoch als neutrale Athleten starten.
Die Meldung ist kaum der Rede wert. In Wahrheit bedeutet die «Sanktion» ein vierjähriges Wimpel-Verbot. Vier Jahre lang dürfen russische Sportler nicht unter ihrer nationalen Flagge, sondern nur als «neutrale Sportler» starten.
Aber die Medien reagierten wie dressierte Hunde. Seit Jahren darauf konditioniert, jedem WADA-Pups Bedeutung beizumessen, berichteten sie tagelang und prominent über die Depesche. Sie schlugen auf die russischen Sportler ein und bewerteten das Urteil ziemlich unbeholfen. Es gab – als mechanisches Ritual – auch einige WADA-Kritiker. Das ist aber nicht besonders subversiv. Selbst Josef Blatter, ehemaliger Präsident des Weltfussballverbandes und einst geachtetes Banden-Mitglied der Weltsportfunktionäre, hinterfragt unterdessen das System.
Der eigentlich subversive Akt wäre gewesen, die Meldung zu ignorieren und stattdessen das grosse Ganze anzuschauen. Die manipulativ aufgeblasene Russland-Nichtigkeit lenkte von der WADA selber ab. Dabei gäbe es mindestens zwei Gründe, umfassend über die WADA zu berichten.
- Im November 2019 wurde Witold Banka auf der Welt-Anti-Doping-Konferenz in Kattowitz zum neuen WADA-Präsidenten gewählt. Er hat seine Arbeit offiziell am 1. Januar 2020 aufgenommen.
- Im November 2019 wurde die WADA zwanzig Jahre alt.
Warum diese Meldungen wichtig sind? Weil der neue WADA-Präsident für den Anti-Doping-Kampf völlig unbedeutend ist. Und alle Präsidenten vor ihm auch. Und weil die WADA seit zwanzig Jahren den Anti-Doping-Kampf mit ihren Taschenspielertricks nur simuliert. Beides ist ein Skandal.
Witold Banka ist 35 Jahre alt und Pole. Er rannte an Universiaden als Staffelläufer auf der 400-Meter-Bahn. Danach war er freiberuflich für Image- und Medienkampagnen unterwegs, ehe er quer in die Regierung kam. Zuletzt war er Tourismus- und Sportminister in Polen. Sein Leistungsausweis ist dünn. Man kann vermuten, dass er deshalb ins WADA-Programm gekommen ist. Die Personalie ist aber insofern interessant, weil sie der WADA-Strategie entspricht. Sein Vorgänger war der Schotte Craig Reedie, einst Badmintonspieler und seit 1999 mit dem britischen Ritterorden versehen. Er war Mitglied im Vorstand des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), der mächtigsten Weltsport-Organisation, der er eigentlich auf die Finger schauen sollte. Vier weitere IOC-Mitglieder sind ausserdem im WADA-Vorstand anzutreffen. Nicht genug damit. Rund die Hälfte der WADA-Funktionäre ist mit dem IOC verbandelt.
Bestechung, Korruption, Begünstigung
Der erste WADA-Präsident im Jahr 1999 war gar IOC-Vizepräsident gewesen. Der Kanadier Dick Pound, ehemals Schwimmer, Jurist und engster Vertrauter des zwielichtigen IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch. Noch erstaunlicher sind allerdings die ersten WADA-Vizepräsidenten: Hein Verbruggen, damals Präsident des Internationalen Radportverbandes und Mitglied im IOC sowie der Norweger Anders Besseberg, damals Präsident der International Biathlon Union. Beide sind nicht durch demokratische Qualitäten aufgefallen. Sie haben sich vorab mit Bestechung, Korruption und Begünstigung hervorgetan. Die Weltsportverbände Rad und Biathlon gelten als beispielhaft, wie Dopingsysteme im Untergrund gedeihen können. Sie haben das post-moderne Dopingwesen quasi mitbegründet. Ausgerechnet diese Funktionäre berief das IOC in jenes Gremium, das gegen Doping kämpfen soll. Wer ein derart schlecht beleumdetes Duo in die Führungsriege schickt, hat kein Interesse an einem ernst zu nehmenden Anti-Doping-Kampf.
Die WADA war von Anfang an als PR-Instrument des IOC vorgesehen. Ein riesiges Konstrukt, um die öffentliche Meinung über Doping und wie darüber berichtet wurde, zentral zu steuern. Der so genannte Anti-Doping-Kampf war im Grunde stets ein Ablenkungsmanöver für die Zaubertricks der Dopingkünstler im Untergrund. Die WADA erhielt als Starthilfe 25 Millionen Dollar – je zur Hälfte vom IOC und aus Steuergeldern – und machte einen ausgezeichneten Job im Sinne des IOC. Die Medien rapportierten stets den «unabhängigen» Anti-Doping-Kampf und belobigten jede Tat. Obwohl die WADA in 20 Jahren keinen einzigen Dopingskandal von sich aus öffentlich machte. Die endlosen Studien, (Präventiv-)Kampagnen, Proklamationen, Erlasse und Reporte verschwanden in den Schubladen, bevor die Druckerschwärze trocken war.
Der Weltsport wäre fast implodiert
Das Anti-Doping-Programm des IOC vollzog sich grob in zwei Arbeitsschüben. Beide wurden durch Doping-Ereignisse ausgelöst, die nicht vorhersehbar waren, aber dramatische Effekte hatten. Die TV-Live-Bilder, die den Glanz des Weltsports erst ermöglichten, wurden dabei zum Verhängnis.
Die erste Doping-Panne, die den Weltsport fast implodieren liess, ereignete sich am 13. Juli 1967 an der Tour de France. Es war ein heisser Tag. Die Organisatoren meldeten bald nach dem Start in Marseille 40 Grad im Schatten. Am Ende dieser 13. Etappe soll der Mont Ventoux bezwungen werden. Ab dem beschaulichen Städtchen Bédoin bis zum Gipfel sind 21 Kilometer zu bewältigen. Die letzten sechs Kilometer führen durch ein riesiges Kalkschotterfeld ohne Schatten. Der Brite Tom Simpson, erzählen die Kollegen später, radelt recht unbekümmert im Peloton. Zwei Jahre zuvor ist er Weltmeister der Radprofessionals geworden. Nun will er als erster Engländer die Tour de France gewinnen. Mehr als 200 Kilometer ist er an diesem Tag schon unterwegs. Es sind die letzten in seinem Leben.
3000 Meter vor dem Ziel kippt er vom Rad. Er schwingt sich nochmals in den Sattel, fährt im Zickzack einige Meter weiter, ehe er ein zweites Mal stürzt. «Put me back on my bike» («Setzt mich wieder auf mein Rad»), soll Simpson laut einigen Zuschauern noch gerufen haben. Dann kollabierte er. Die erste Hilfe von Tour-Arzt Pierre Dumas blieb erfolglos. Um 17.40 Uhr diagnostizieren die Mediziner Herzversagen nach starker körperlicher Anstrengung. Dumas verweigerte die Unterschrift unter den Totenschein. Es sei unwahrscheinlich, dass ein junger, gesunder Mensch auf diese Weise sterbe, begründete er seine Weigerung. Eine Obduktion ergab, dass Simpson einen Cocktail aus Amphetaminen, Betäubungsmitteln und Alkohol eingenommen hatte. Diese Mischung wirkte bei derart hohen Temperaturen tödlich. Sein Körper merkte gar nicht mehr, dass er seine natürlichen Grenzen längstens überschritten hatte. «Er war schon tot, als wir hinkamen», sagte Dumas.
Das Ereignis war ein Schock. Millionen sahen live am TV-Apparat, wie Simpson starb. Für den Weltsport weit dramatischer war, dass er erstmals die Deutungsmacht über Doping verloren hatte. Er konnte nicht mehr kontrollieren, wie über die Dopingpraktiken berichtet wurde.
Oberdoper definieren auch den Anti-Doping-Kampf
Die Reaktion des IOC war hektisch. Es installierte schon im Herbst 1967 eine Medizinische Kommission unter dem Vorsitz des Belgiers Prinz Alexandre de Mérode. Die Medizinische Kommission veranlasste erste Dopingkontrollen bei den Olympischen Spielen 1968 in Grenoble und Mexico City. Es gab jedoch keine normierten Verfahren. Auch war nicht transparent, was mit den Proben geschah. Die ersten standardisierten internationalen Dopingkontrollen wurden an den Olympischen Sommerspielen 1972 in München durchgeführt. Die Leitung des Dopinglabors teilten sich der britische Pharmakologe Arnold Beckett und der Deutsche Biochemiker Manfred Donike. Die Oberaufsicht der medizinischen Abteilung hatte der Schweizer Sportmediziner Gottfried Schönholzer. In die Vorbereitung und Durchführung waren unter anderen auch Herbert Reindell, später Leiter des sportmedizinischen Klinikums der Universität Freiburg, sowie die deutschen Sportmediziner Joseph Keul oder Armin Klümper involviert.
Im Kontrolllabor von München versammelte sich somit die Welt-Elite der Dopingspezialisten. Klümper hat hunderte von Athleten jahrelang gedopt, einzelne starben an Doping-Überdosen. Keul war der «am meisten dopingbelastete Sportmediziner in Westdeutschland» gewesen, wie eine historische Studie aus dem Jahr 2017 belegt. Reindell, als sein Chef, hat diese Dopingpraktiken mitbegründet und später toleriert. Donike, ab 1977 Leiter des Instituts für Biochemie an der Sporthochschule Köln, hat Athleten bei der Einnahme von Dopingmitteln beraten und soll auch positive Proben zurückbehalten haben, um Funktionäre zu schützen. Und Schönholzer schliesslich, zuständig für die Sektion Forschung an der Eidgenössischen Sporthochschule Magglingen, erfand das Schweizer Dopingwesen. Er tauschte sich zeitlebens und in Freundschaft mit den Oberdopern aus Deutschland aus.
Das Muster für die spätere WADA-Gründung war hier vorgegeben. Die Welt-Elite der Doper definiert auch den Anti-Doping-Kampf. Sie kontrollierte ihre eigenen, verbrecherischen Tätigkeiten. Kein Wunder, dass sie nichts zutage förderte. Obwohl damals die meisten Athleten Anabolika-Pillen unter dem Handelsnamen Dianabol wie Bonbons schluckten.
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Teil 2 des Artikels folgt in den nächsten Tagen.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Walter Aeschimann war Redaktor bei Tamedia und beim Schweizer Fernsehen. Er publiziert seit 30 Jahren kritisch zum Thema Doping.