GaviaPass

So sieht der Passo Gavia heute aus – bei schönem Wetter! © gk

Leiden am verrücktesten Pass des Giro d’Italia

Hanspeter Guggenbühl /  Vor 25 Jahren überquerte der Giro d'Italia erstmals den Gavia-Pass. Es war eine Höllenfahrt durch Regen und Schnee.

Die Direktion des Giro d’Italia ist weicher geworden – oder aus Erfahrung vernünftiger: Wegen Schneefall annullierte sie die für heute Freitag, 24. Mai, geplante Fahrt über den Gavia-Pass und das Stilfserjoch.

Vor einem Vierteljahrhundert war alles anders: Am 5. Juni 1988 startete der Giro trotz Kälte und Schnee in Chiesa Valmalenco zur Fahrt über den Aprica- und den Gavia-Pass (2621 m.ü. Meer). Sie wurde zur verrücktesten Etappe in der Geschichte der Italien-Rundfahrt. Die meisten Fahrer, die das Ziel erreichten, waren unterkühlt. Einige weinten oder waren traumatisiert. Andere mussten von Helfern vom Rad gehoben werden, weil ihre starren Glieder einen Abstieg aus eigener Kraft nicht mehr schafften.

Der 5. Juni war auch der Tag, der über Sieg und Niederlage entschied: Der Holländer Johann van der Velde, der die Passhöhe des Gavia als erster erreichte, büsste in der 25 Kilometer langen Abfahrt hinunter nach Bormio 47 Minuten auf den Etappensieger Erik Breukink ein. Auch der Schweizer Urs Zimmermann verlor auf der steilen Abfahrt viel Zeit und damit die Chance, den Giro zu gewinnen. Der US-Amerikaner Andy Hampsten hingegen legte als zweiter der Etappe den Grundstein für seinen Gesamtsieg.

Mit dabei am Gavia war 1988 auch der Journalist und Freizeit-Velofahrer Hanspeter Guggenbühl. Er fuhr auf seinem Rennvelo dem Tour-Tross voraus und hinterher, notierte seine Eindrücke mit klammen Fingern in den Notizblock und diktierte seinen handgeschriebenen Text kurz nach Ankunft in Bormio per Telefon an die Redaktionen, denn Laptop und Internet gab es damals noch nicht. Zum Jubiläum eine leicht redigierte und gekürzte Fassung seiner damaligen Reportage:

»Ich will es mit eigenen Augen sehen.»

»Nein, das glaub ich nicht», rief ich aus, als mir der Sportjournalist und Kollege Martin Born erzählte, der Giro d’Italia führe dieses Jahr über den Gavia-Pass. Den «Gavia» hatte ich ein Jahr zuvor von Norden, von Bormio aus, mit dem Rennvelo erfahren. Der obere Teil war eine Naturstrasse, die eher einem Bachbett glich. Über diesen fürchterlichen Pass also wollen die Giro-Planer die 200 Fahrer im Renntempo hetzen, die motorisierte Tourkolonne hinterher. Ich will es mit eigenen Augen sehen.

Ich radle also (am 5. Juni 1988) erneut Richtung Gavia-Pass, diesmal von Süden her. Rund drei Stunden später, so ist geplant, wird der Giro-Tross auf der gleichen Strecke folgen und meinen Vorsprung schnell schmelzen lassen. Seit ich weggefahren bin, regnet es in Strömen. Die mir entgegenprasselnde Sturzflut hat mich schon auf der Abfahrt ins Veltlin trotz Regenschutz völlig durchnässt. Jetzt, im Aufstieg zum Aprica-Pass, wärmt sich der Körper allmählich wieder etwas auf.

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Die Strasse ist hier noch breit und nicht allzu steil. «Ein Roller-Pass», würden meine Kollegen von den Sportredaktionen wohl schreiben. Hier wird das Feld geschlossen herauf fahren, stelle ich mir vor, locker, die Kräfte für den «Gavia» sparen. Kräfte sparen will ich auch, doch ganz so locker geht’s nicht. Der «Roller-Pass» weist einige giftige Rampen auf.

»Rominger» steht weiss auf dem schwarzen Strassenteer. Auch Saronni und Visenti werden schriftlich angefeuert. «Noch drei Kilometer bis zum Bergpreis», markiert eine Tafel. Den Beat Breu mag das beflügeln. Mich nicht. Ein nasskalter Gegenwind bläst hier meine Aufstiegswärme weg. Gleichzeitig wachsen die Zweifel, ob der Giro mir wirklich folgen wird. Auf dem Gavia oben wird es bei dieser Kälte bestimmt schneien, denke ich. Wenn die Planer die Etappe in letzter Minute noch ändern oder abblasen, kann ich meine geplante Reportage in den Kamin schreiben. Sie tun es nicht, erfahre ich am Telefon in Aprica und fahre weiter, hinunter nach Edolo.

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In Ponte di Legno (1200 m.ü.Meer) beginnt dann der eigentliche Aufstieg zum Gavia. Der unterste Teil der einstigen Naturstrasse ist neu geteert worden, stelle ich befriedigt fest. Doch die Freude währt nicht lange. Nach der zweiten Kurve geht der Asphalt in eine vom Regen aufgeweichte Lehmpiste über. Runterschalten ist nicht mehr möglich. Ich fahre bereits im kleinsten Gang, hinten im 26er-Kranz. Meine Beine sind jetzt schwer. Mein Kopf ist vollauf damit beschäftigt, sie am Drehen zu halten – Tritt um Tritt. Dabei sollte ich doch den Kopf freihalten, Impressionen aufnehmen, um sie dann in gediegene Formulierungen umzusetzen.

Die dünnen Pneus kleben am nassen Lehm wie an Leim. 16 Prozent Steigung markiert eine Tafel. Ich brauche jetzt alle Kraft, steige aus dem Sattel. An einer besonders durchweichten Stelle gräbt sich der Vorderreifen so tief in den weichen Boden, dass ich absteigen und das Rennvelo einige hundert Meter lang stossen muss. Dann wird die Strasse etwas flacher, und ich steige wieder auf.

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Die vielen Zuschauer, die zu Fuss bergwärts stapfen, feuern die wenigen Velofahrer an, die wie ich mühsam aufwärts trampen: «Vai, vai, forza, bravo.» Der Beifall beflügelt. Gleichzeitig stinkt es entsetzlich nach Dieselrauch. Denn mittlerweile hupen sich die ersten Begleitfahrzeuge des Begleittrosses den Weg frei. Auf der schmalen, von Zuschauern gesäumten Strasse streben sie energisch aufwärts, damit die Tourkolonne nicht ins Stocken gerät.

»14 %» markiert eine weitere Tafel. Diesmal kann ich die Rampe ohne Absteigen bewältigen. Zum Glück. Denn hier überholt mich Kollege Born. «Brutalo», sagt er und winkt aus dem offenen Autofenster. Eigentlich habe er den Pass auch mit dem Velo erklimmen wollen, erinnerte ich ihn. «Aber doch nicht bei diesem Wetter», antwortet er und rauscht bergwärts.

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Noch vier Kilometer bis zur Passhöhe, markiert der Kilometerstein. Ich beschleunige den Tritt, denn inzwischen stehe ich im Wettlauf mit der Marschtabelle. Ich will unbedingt vor dem ersten Rennfahrer oben ankommen. Denn auf der Passhöhe will ich mich unter die Zuschauer reihen, das Rennen beobachten und meine Eindrücke notieren.

Der Regen ist längst in Schnee übergegangen. Ich muss essen, sagt mir mein Kopf, doch der Magen mag nicht mehr verdauen und krampft sich empört zusammen. Etwas später stoppt mich ein Lastwagen, aus dem zwei Männer Salz auf die mit Schnee bedeckte Strasse schaufeln. Als ich mit klammen Fingern und eiskalten Beinen wieder aufs Velo steige, verkrampft sich mein linker Oberschenkel. Darum muss ich mein Velo auf dem letzten Kilometer im steifen Schneesturm wieder stossen. Passierte das einem Rennfahrer, so denke ich, würde er den Kontrollschluss bestimmt verpassen. Eine Stunde und fünfzig Minuten nach der Wegfahrt in Ponte di Legno erreiche ich den 2625 Meter hohen Gavia-Pass. Profis schaffen die gleichen 1400 Höhenmeter in halber Zeit.

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Die Rennfahrer, die kurze Zeit nach mir die Passhöhe überqueren, sehe ich nur kurz. Der Erste kommt solo. «Van der Velde», sagt ein Zuschauer. Dann folgen zwei zusammen. «Hampsten und Breukink», höhre ich. Den vierten, endlich, kenne ich selber: Urs Zimmermann. Chauvinismus bricht durch. «Hopp Zimmi», rufe ich.

Die meisten Fahrer, die den Zenit einzeln oder in Gruppen erreichen, ziehen die Regenjacke freihändig fahrend an, bevor sie talwärts verschwinden. Zimmermanns Mannschaftskollege Visentini hält einige Sekunden an, so dass ich sein Gesicht sehen kann. Er kann den Giro nicht mehr gewinnen. Sein Ausdruck wirkt resigniert, verzweifelt.

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Das Fürchterlichste haben die Fahrer auf der Passhöhe noch vor sich: Die Abfahrt. Zwar sind einige Teilstücke hier ebenfalls geteert worden, aber Naturstrasse bleibt noch genug. Und auf der Strasse liegt Schneematsch, sehe ich, nachdem ich später selbst abfahre. Der Sturm treibt mir die Schneekristalle in die Augen und behindert die Sicht. Meine Füsse sind gefühllos vor Kälte. Um sie zu beleben, steige ich immer mal wieder ab und renne einige hundert Meter zu Fuss talwärts, während ich das Velo neben mir her stosse.

Auf dieser steilen und glitschigen Abfahrt, auf der ich meine Bremsklötze bis aufs Metall abreibe, müssen die Rennfahrer um Sekunden kämpfen. Der Mutigste wird gewinnen, nicht der Erste auf der Passhöhe, werde ich später erfahren. Als ich nach annähernd einer Stunde Abfahrt unten in Bormio ankomme, erneut begleitet von Bravo-Rufen der Zuschauer, bin ich froh, dass ich mein Geld nicht täglich als Velofahrer verdienen muss.

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Siehe auch die brillante Fotostrecke von Daniel Höhn in der NZZ


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

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