Kommentar
Brot und Spiele für das Volk!
«Es lebe der Sport…» singt Rainhard Fendrich. Gesund ist er obendrein, besonders wenn man ihn selbst praktiziert. Aber Zuschauen hat auch seinen Reiz: Unbedenklich kann man seine Emotionen ausleben. Und wer nicht bei brütender Hitze oder Regenwetter im Stadion stehen will, kann das Geschehen am Bildschirm verfolgen, beim Bier und kalorienreichen Snacks, die Beine bequem ausgestreckt. Die Emotionen bleiben, sie werden in die gute Stube ausgestrahlt. Wer dafür nicht genügend Zeit findet, der kann sich die Resultate am Radio reinziehen und bekommt die Kommentare dazu mitgeliefert, die Befindlichkeiten der einzelnen Stars in immer denselben Sätzen in unzähligen Variationen: «Da muss man eine gesunde Aggressivität entwickeln…», «den Gegner richtig einschätzen …» usw. usf.
So weit so gut, so weit so normal.
Als eingefleischte Radiohörerin habe ich kürzlich jedoch nicht schlecht gestaunt: Eine volle Woche lang wurde das Spiel, das den Berner Young Boys den frühzeitigen Meistertitel einbrachte, in allen Informationssendungen oder im daran anschliessenden Sport vorbereitet, thematisiert, herbeigejubelt. Sogar die Wetterprognose spendierte jeden Tag eine Prognose dazu. Und als der Meister endlich gekürt war, hörte der Jubel schon gar nicht mehr auf. Sämtliche Moderatoren auf SRF 1 mussten ihren Gefühlen freien Lauf lassen.
Damit aber nicht genug. Im Nachgang widmete gar das Satiremagazin «Spasspartout» eine ganze Stunde diesem Thema. Viele der scharfen, kritischen Köpfe der schweizerischen Cabaretszene vereinten sich im Jubel: YB endlich Meister. Nach 32 Jahren! Ein wenig Häme gegen den randschweizerischen Dauermeister war auch dabei, aber keine Spur von Selbstironie über die eigene Peinlichkeit in diesem Siegestaumel. Und sogar nochmals eine Woche nach dem Match widmete Gabriel Vetter den gesamten Inhalt seiner allmonatlichen Mittagssendung dem Grossereignis. So leichtfüssig kann Satire sein.
Die Schweizer Medien befanden sich also während 14 Tagen im Ausnahmezustand. Aber wehe, wenn jemand Kritik wagte. Die oder der sei eben ein Sportmuffel, missgönne den Fans die Freude. Frauen könnten da ohnehin nicht mitreden. Denn Fussball ist Männersache. Jeder hat als Kind oder Jugendlicher einmal «geschuttet» und deshalb ist jeder Experte. Fussball wird so lange eine Männerbastion bleiben, wie die Frauen in der Fussballszene mit einem Lächeln geduldet werden und vor allem keine Spitzenverdienerinnen sind.
Grosse Geldmaschine
Und da sind wir beim wunden Punkt angelangt: Es ist das Geld, das dem Sport die spielerische Unabhängigkeit geraubt hat, nicht nur dem Fussball; tangiert war aber vor allem der Fussball – jenes grossartige, komplexe Spiel, das ein subtiles Körpergefühl, Kraft und Können, aber auch Improvisationsgabe und geistige Beweglichkeit erfordert. Ein grosses Vergnügen für die Zuschauer in jedem Fall. Aber nach und nach wurde eine gut funktionierende Geldmaschine damit verknüpft. Zuerst fokussiert auf die Einnahmen, die mit grossen Veranstaltungen generiert werden können, dann mit Versprechen an das Gewerbe, das an solchen Veranstaltungen mitverdient, an Gemeinden, Kantone, die sich Werbung und Prestige – und ebenfalls wirtschaftliche Nebeneffekte – erhoffen. Und schliesslich über die Kommerzialisierung und Privatisierung der Vereine, die sich mithilfe von privat investierten Geldern unerhörte Wettbewerbsvorteile verschaffen konnten. Im Extremfall gehören erfolgsversprechende Clubs gar einzelnen Grossinvestoren oder sind von ihnen abhängig. Von dieser Entwicklung wurden auch die Sportverbände erfasst. Sie fanden sich in einer ganz neuen Rolle wieder, mussten die wirtschaftliche Entwicklung der «Branche» im Auge behalten und wurden damit für zweifelhafte Geschäfte und Korruption anfällig. Ganz zu schweigen von den grossen internationalen Verbänden. Da geht es tatsächlich um Milliardengeschäfte.
Die Medien spielen in diesem ebenfalls komplexen Spiel eine dominante Rolle. Sie befeuern willfährig den überspannten Wettbewerb, jubeln die einzelnen Akteure hoch, die dann zu Spitzenverdienern werden können, leisten immer einem gewissen Chauvinismus Vorschub – nicht nur zwischen den einzelnen lokalen Vereinen, sondern vor allem im internationalen Wettbewerb, der ja von Anfang auf den Kampf – oder Wettbewerb – der Nationen ausgerichtet war. Da pocht man auf eine nationalistische Solidarität, redete vor allem über Schweizer Sportler und von jenen Sportarten, in denen die Schweiz erfolgreich ist. Der Rest ist kaum der Rede wert. Ach, beinahe hätte man vergessen, dass der Sport ja völkerverbindend sein soll.
Die Fankultur entwickelte sich in dieselbe Richtung. Bedingungslos für den eigenen Verein, lautstark für die lokale oder nationale Glorie, notfalls mit wüsten Worten oder gar mit Gewalt. Da jedoch distanzieren sich die Medien. So war es nicht gemeint. Der Hauptteil der Kosten für die Polizeieinsätze bleibt an der öffentlichen Hand hängen.
Und was haben die Medien davon – allen voran die elektronischen Medien, die öffentlichen Fernsehanstalten und zuallerletzt das Radio? Auch das gehört zum komplexen Spiel mit den Finanzen. Da geht es um Einschaltquoten, der wichtigsten Währung im Sportgeschäft. Denn an den Einschaltquoten hängen die Sponsorengelder und für die Medien vor allem die Werbegelder im Umfeld. Da wird gefeilscht und gehandelt über Übertragunsrechte, über unerhörte Forderungen und noch nicht erfüllte Einnahmeversprechen. Der Markt befiehlt, und es bleibt unklar, wer gewinnt oder wer verliert und wer wen über den Tisch zu ziehen vermag. Die Senderechte sind jedenfalls ein grosser Brocken in den Ausgaben der SRG und die Werbeeinnahmen sind es ebenfalls. Darum muss auch das Radio mitziehen, obwohl es nicht im selben Masse profitiert wie das Schweizer Fernsehen, weil es nicht in dieser Abhängigkeitsfalle Werbung steckt. Und trotzdem soll mit allen Mitteln um die Aufmerksamkeit der Sportbegeisterten geworben werden. Da gehören jene Tricks dazu, möglichst viele Sportberichte in die Informationssendungen einfliessen lassen (etwas, das vor zwanzig Jahren völlig undenkbar gewesen wäre!) oder zumindest an den Rand dieser meist gehörten Radiosendung zu platzieren – und während den grossen, oft mehrtägigen Sportanlässen das Thema in möglichst viele andere Sendungen zu schmuggeln. Da kann man sich also schon jetzt auf die diversen Grossanlässe dieses Sommers freuen.
Aber wem schadet das? Im grossen Trubel werden die andern Themen an den Rand gedrängt. Alles andere wird zur Nebensache – die Politik, die gesellschaftlichen Probleme, das Weltgeschehen. Und der Hype verselbständigt sich – vor allem bei den Jungen. Das hat Folgen für eine Gesellschaft. Es gibt den Verdummungseffekt, den die Römer schon vor 2000 Jahren anwandten: Brot und Spiele für das Volk, damit es auf keine anderen Gedanken kommt.
Und zum Abschluss eine versöhnliche und persönliche Bemerkung: Den Berner Young Boys sei der Meistertitel von Herzen gegönnt!
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Die Journalistin und Autorin Linda Stibler war über 40 Jahre in verschiedenen Medien tätig, unter anderem in der damaligen National-Zeitung, in der Basler AZ und bei Radio DRS (heute SRF).
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Organisation), Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.
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Man muss ja den Zuhör-/Zuschau-Zirkus nicht mitmachen. Wenn am Radio Sport kommt zappen wir sofort. Insbesondere Doping-Radfahren und Bestechungsfussball sind definitiv gestrichen.
(Am TV schauen wir generell nur vorselektierte und gespeicherte Dok- und Spielfilme).
1500 Zeichen stehen mir zu, um Linda Stiblers Analyse zu kommentieren. Was regt sie auf an dem ganzen Getriebe? Ich mache es kurz: Real Madrid meint Ronaldo kaufen zu müssen, ist aber millionenfach verschuldet. Der spanische Staat hält das als von nationaler Bedeutung und unterstützt Real, aber der Staat ist auch verschuldet und gelangt an die EZB. Die EZB gewährt den Kredit, Ronaldo wird gekauft, nicht billig!
Wenn nun Real Pleite macht oder der Euro aufgegeben wird, wird der Steuerzahler die Zeche bezahlen. Nein, die Story stammt nicht von mir, sondern von einem der renommiertesten Ökonomen Deutschlands.
Alles nur Brot und Spiele für das Volk! Wie schon im alten Rom, nur mit etwas weniger Blutvergiessen, aber mit den gleichen «Emotionen». Hopp YB!
Liebe Frau Stibler, ich glaube tatsächlich Sie stehen im Offside mit ihrer Analyse. Fussball ist nicht einfach „Brot und Spiele“ die Politik auf die Seite drängen. Fussball ist selber höchst politisch. Primär ist Fussball eine der letzten unangefochtenen Männerdomänen, die hegemoniale Männlichkeitsvorstellungen genial portiert. Sie kommen zwar auf die «Männersache» kurz zu sprechen, bleiben dann aber am Geld hängen. Nicht das Geld macht den Fussball so gross, sondern die Demonstration unangefochtener Männlichkeit im Fussball und American Football spielt das Geld ein. «Mann» lässt sich was kosten für ein die Stube geliefertes tradiertes Männlichkeitsbild. Männlichkeit fragt nach Macht und Macht generiert Geld. So unzensiert dargestelltes Männlichkeitsideal ist nicht nur Spiel, das ist Politik auf höchster Ebene. Chauvinismus auf internationaler Ebene und Chauvinismus gegen Feminismus in reinster Form.
Zuschauersport wie der Profifussball ist ein Wunschbedarfsgut wie auch andere passiv zu konsumierende Freizeitvergnügen. Kein Grund hierfür öffentliche Mittel einzusetzen. Das ist der Unterschied zu Grundbedarfsgütern und aktivem Freizeitsport.
@ Schoch: Exzellenter Kommentar!!! Er legt den Finger sehr präzise in die richtige Wunde (unserer Gesellschaft und letztlich wahrscheinlich sogar der Menschheit Schicksal). Vielen Dank, dass Sie darauf aufmerksam machten!