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Hinter Lance Armstrong: Viele Medien vermitteln das falsche Bild eines schlimmen Einzeltäters © CBS NEWS

Am Donnerstag soll Lance Armstrong auspacken

Walter Aeschimann /  Das mediale Anprangern des grossen Lügners vernebelt den Blick auf eine kriminelle Untergrundkultur im Radsport.

Lance Armstrong galt als bester Radprofessional aller Zeiten. Weil er sich weigerte, nur eine Marionette im grossen Spiel zu sein, hat ihn das etablierte Sportsystem vernichtet. Doch jetzt wird nur er allein dargestellt als Doper, Lügner, gar als Krimineller – und ganz wichtig – als Einzeltäter. An diesem Donnerstag will er sich bei Oprah Winfrey äussern, in der einflussreichsten Talk-Show des US-Fernsehens. Bereits jetzt hat Winfrey die New York Times informiert, dass er ein Dopinggeständnis ablegen wird. Doch nur wenn er auch über die Hintergründe spricht, könnte es zum ersten Mal einen substantiellen Einblick in die kriminelle Untergrundkultur des Sportes geben. Denn das ist das einzige, was in dieser Causa noch interessiert.

Zieht man die Pharmazie ab…

Wenn der Tonfall schrill und böse wird, sind die Argumente besonders dünn. Der Wahrheitsfindung dient es kaum. Dies scheint momentan der Fall, wenn man Zeitung liest, Radio hört oder TV schaut und somit konsumiert, was Medien zum Thema Lance Armstrong täglich publizieren. Die Intonation ist öfters bös und giftig, bisweilen kleinlich zänkisch, wenig objektiv. Selbst die Süddeutsche Zeitung, bis anhin einer differenzierteren Betrachtung zugeneigt, rechnet auf, was von ihm übrig geblieben ist: «Zieht man die Pharmazie ab, bleibt kein Hinweis auf besondere Fähigkeiten. Platz 36 bei der Tour 1995 ist das beste Resultat, (…).»

Dies ist natürlich Unfug. Die Diskussion, ob sportliche Erfolge mit oder ohne künstlichen Support erreicht worden sind, scheint angesichts der jahrzehntelangen, flächendeckenden und aktenkundigen Doperei im Spitzensport längstens obsolet. Aber wenn schon eine Diskussion, leuchtet es beim besten Willen nicht ganz ein, warum der Abzug nur auf Armstrong bezogen wird. Zieht man folgerichtig bei anderen die Pharmazie auch ab, bliebe er wohl immer noch der beste Radprofessional. Nur: Das ist hypothetisches Gezänk und vernebelt die Sicht auf grössere Zusammenhänge.

Nach Krebs das «Comback des Jahrhunderts»

Armstrong wurde im Oktober 1993 mit 21 Jahren der jüngste Weltmeister aller Zeiten bei den Radprofessionals. Er gewann die folgenden Jahre noch zwei Tour-de-France-Etappen und zwei klassische Rennen der höchsten Kategorie und war erfolgreicher schon als die meisten Pedaleure ein Berufsleben lang. Dann entdeckten Ärzte im Oktober 1996, nach offiziellen Darstellungen, einen Hodenkrebs im fortgeschrittenen Stadium, mit Lymphknotenmetastasen im Bauchraum und in der Lunge und zwei Tumoren im Gehirn. Im Frühjahr 1998 kehrte Armstrong nach zwei Operationen und vier Zyklen Chemotherapie geheilt und unter grosser Anteilnahme der Medien ins Peloton zurück, als «Comeback des Jahrhunderts».
Von höchster Ebene Support und Schutz
Die Welt des Radsports war damals elend dran. Die Generation um Miguel Indurain und Toni Rominger hatte diesen Sport mit weit verbreiteten Dopingvorwürfen an den Abgrund manövriert. Ein neuer, weniger dopingverdächtiger Jahrgang war nicht in Sicht, schon gar nicht ein sonniger Imageträger. Ein vom Totenbett auferstandener US-Boy kam deshalb wie gerufen. Er konnte mit einem Mitleidsbonus rechnen und war, wichtiger noch, unantastbar. Die süssliche Begleitmelodie waren Tugenden wie Fleiss, Ausdauer, Wille und der unerschütterliche Glaube, dass das Leben nicht zu Ende ist, auch wenn die Ärzte den Totenschein fast schon unterschrieben haben.
Armstrong erhielt dabei sicherlich von höchster Ebene Support, Schutz und umfangreiche Freiheiten zugesichert. Die höchste Ebene waren Politiker, Weltverbands-Funktionäre, Tour-Direktoren, CEO’s multinationaler Unternehmen und Leistungsträger bei den Medien.
Die Sportgemeinde wurde erpressbar
Der Texaner mit schwieriger Sozialisation im Kindesalter nahm die Geschenke dankend an. Es war ihm wohl bewusst, dass er in eine Abhängigkeit geriet. Nicht bewusst war sich indes die Gegenseite, dass ihre Abhängigkeit ebenso gefährlich war. Sie hatten den jungen Sportler in zweifelhafte Deals eingeweiht und sich damit ausgeliefert. Das konnte nicht lange funktionieren.
Die Radsportindustrie und deren Zudiener musste ohnmächtig akzeptieren, dass er sich weigerte, nur eine Marionette im grossen Spiel zu sein, dass er immer dreister wurde, dass er gar begann, ein Parallelimperium aufzubauen und die Macht schamlos für seine Zwecke nutzte. Er gewann sieben Mal hintereinander die Tour de France, was sicherlich nicht vorgesehen war. Aber die versammelte Sportgemeinde war erpressbar bis auf die Knochen. Erst als es ums nackte Überleben ging, griff das Sportestablishment zum fiesesten aller Tricks: es veröffentlichte Dopingakten.
Gezielte Enthüllung
In der Ausgabe vom 24. August 2005 publizierte die französische Sportzeitung L’Equipe Protokolle aus dem Jahr 1999. Die Papiere sollen untermauern, dass Armstrong bei seinem Tourerfolg an sechs Tagen das Dopingmittel Erythropoetin (Epo) eingenommen habe. L’Equipe gehört der Amaury Sport Organisation A.S.O, jener Gesellschaft, welche auch die Tour de France organisiert, das Premium-Produkt der Radsportindustrie. Wie l’Equipe an die geheimen Unterlagen gekommen war, wurde natürlich nicht bekannt. Es kann angenommen werden, dass die Tour-Direktion ihrer Hauspostille diese Informationen gezielt zugehalten hat.
Brisante Recherchen über die Strippenzieher eingestellt

Die Aktion war sportrechtlich ziemlich kühn und sollte noch nicht greifen. Aber Armstrong war offiziell zum Abschuss frei gegeben. Die erweiterte Kaste der Sportapparatschiks hingegen hatte erneut einen Prozess lanciert, deren Entwicklung und Ausgang sie völlig unterschätzte. Es ereignete sich das Schlimmste, was einem Sportsystem zustossen kann: eine unabhängige Justiz begann zu ermitteln, in diesem Fall die US-Bundesstaatsanwaltschaft.
Sie tat es derart gründlich, dass wohl nicht nur Unappetitliches über Armstrong zu Tage gefördert wurde, sondern auch über die Strippenzieher im Hintergrund, die seinen Aufstieg begünstigt hatten. Insbesondere wohl auch über das staatlich geförderte US Postal Team, in dessen Schoss Armstrong sechs der sieben Toursiege herausgefahren hat. Auf jeden Fall wurden im Januar 2012 die Recherchen plötzlich eingestellt, auf Betreiben eines Bundesanwaltes aus Los Angeles.
Dopingagentur beschränkt sich auf den sportlichen Einzelfall
Die US-Antidopingagentur USDA übernahm und recherchierte weiter, sonderte Belastendes über politische und andere Würdenträger aus und beschränkte sich auf den sportlichen Einzelfall. Sie veröffentlichte im Oktober 2012 mehr als tausend Seiten über angebliche Dopingpraktiken von Lance Armstrong. Der Befund: Er soll gelogen, betrogen, gedopt, soll gar andere eingeschüchtert haben, auch zu dopen und dabei ein weit verzweigtes, bestens organisiertes Dopingsystem unterhalten haben, was unabhängige Beobachter längstens nicht mehr überraschen konnte, ebenso wenig, dass Armstrong die Vorwürfe bisher leugnete.
Der Bericht stützt sich im Wesentlichen auf Zeugenaussagen, ehemalige Kollegen, überführte und geständige Doper, denen allerhand versprochen wurde, wenn sie Armstrong auch belasten würden. Der Weltverband sah sich dennoch ausserstande, ihn länger zu protegieren und nahm ihm Ende Oktober 2012 die sieben Toursiege weg. Zudem erhielt er lebenslanges Berufsverbot. Langjährige Sponsoren, wie etwa Nike, kündigten daraufhin die Arbeit mit ihm auf.
Das System fürchtet sich vor seinem Wissen
Die öffentliche Vernichtung von Lance Armstrong geschah nach dem immer gleichen Muster: isolieren und zum Einzelfall eines besonders verkommenen Subjekts erklären. Aber zum ersten Mal könnte mit seiner sportlichen Auslöschung ein ganzes System kollabieren. Die fanatische Vehemenz des konzentrierten Vernichtungswillens (vor allem nach einer abgeschlossenen Karriere) lässt erahnen, wie gefährlich er dem System geworden war, aber auch, wie sehr es sich immer noch vor seinem Wissen fürchtet.
Am 17. Januar könnte dieses nun an die Öffentlichkeit gelangen. Dann wird zur besten Sendezeit ein 90minütiges Interview ausgestrahlt, das Oprah Winfrey bereits mit ihm aufgezeichnet hat. Winfrey ist die einflussreichste Befragerin in der erfolgreichsten Talkshow des US-Fernsehens. Die Ankündigung, umfassend auszusagen, versetzte involvierte Kreise bereits in helle Panik. Durchgesickert ist bislang, dass er zumindest ein Dopinggeständnis abgelegt haben soll. Doch allein dies wäre zu ordinär und nicht besonders interessant.
Die Medien sind Teil des Ganzen
Das Szenario wird von einer anschwellenden Gehässigkeit der Medien eskortiert. Die bezeichnen unterdessen Armstrong ganz ungeniert als «Kleinkriminellen» (Süddeutsche Zeitung), der mit «krimineller Energie» seine «gewaltigen Betrügereien» (NZZ) vorangetrieben habe. Selbst der Guardian, der vorab ein paar fiktive Fragen formulierte, die Winfrey unbedingt stellen sollte, will nichts über die Folie des Geschehens wissen. Die Medien haben gute Gründe, sich als Hintergangene zu betrachten. Aber sie reagieren wie jahrelang Betrogene und letztlich doch Verlassene, die aber alles tolerierten, weil die Kosten-Nutzen-Rechnung trotzdem stimmte.
Mit irrationalem Rachewillen fokussieren sie im Nachhinein ihre Energie auf jenen, der sie gegängelt hat und angeblich schuld ist an der Misere. Dabei gehört Lügen zur ganz normalen Handlung einer sportlichen Untergrundmoral. Die Medien, es ist banal, sind aber Teil des Ganzen. Auch sie haben Lance Armstrong protegiert, als es darum gegangen wäre, den äusseren Schein kritisch zu hinterfragen.
«Es muss einer schon blind gewesen sein»
Denn nichts wissen ging nur mit professioneller Bigotterie. Oder wie Tyler Hamilton formulierte, jener US-Radprofessional, der als Kronzeuge über seinen ehemaligen Weggefährten plauderte: «Es muss einer schon blind gewesen sein, um nicht mitzubekommen, was hier geschah». Sollte Armstrong, was trotz allem überraschend wäre, sein brisantes (Hintergrund-)Wissen ohne Rücksicht auf Verluste offenbaren, dann gäbe das zum ersten Mal einen substantiellen Einblick in eine kriminelle Untergrundkultur – und nicht Blitzlichter auf Einzelfälle, von denen Armstrong zwar der schillerndste, aber nur der letzte einer endlos langen Liste ist.

DAS INTERVIEW LIVE VERFOLGEN
Das Interview von Oprah Winfrey mit Lance Armstrong kann man auf der Webseite www.oprah.com live verfolgen. Der erste Teil des zweieinhalbstündigen Interviews beginnt am Freitag früh um 03.00 Uhr (Schweizer Zeit), der zweite Teil am Samstag früh ebenfalls um 03.00 Uhr.

NACHTRAG NACH DER SENDUNG
Kommentar von Nick Ramseyer: «Der aalglatte Politfuchs Armstrong».


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor ist freier Journalist und Filmer.

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2 Meinungen

  • am 16.01.2013 um 07:02 Uhr
    Permalink

    Ein sehr guter Bericht, der genau auf den Punkt hinweist, der mich bei den verschiedenen Berichten zum Doping jeweils am meisten stört(e): den oder die Erwischten als Einzeltäter hinstellen oder die Dopingproblematik auf den Radsport reduzieren. Dass dahinter mehr steckt ist, wie der zitierte Tyler Hamilton sagt, sollte eigentlich allen Sportinteressierten klar sein.
    Dass es aber immer noch Sportverbände gibt die die ganze Dopingsache herunterspielen, die Problematik nicht wahrhaben wollen und entsprechend wenig Kontrollen machen ist besonders tragisch und dient letztendlich der Sache überhaupt nicht.
    Als Fazit bleibt eigentlich nur noch die Feststellung dass der Sport und die Dopingmissbräuche ein Spiegel der Gesellschaft sind in der vielfach auch mit unethischen Mittel «gearbeitet» wird.

  • Portrait.Hanspeter Guggenbühl.2020
    am 17.01.2013 um 14:22 Uhr
    Permalink

    Sowohl ein guter Bericht als auch ein gescheiter Leserbrief. Ich kann nur nicken und Eines ergänzen. Das Thema Dopping, das laut Aeschimann zum Fall Amstrong reduziert wird, illustriert auch sehr schön, wie der Meutejournalismus funktioniert: Erst im Chor hochjubeln, dann sich im Chor empören. Das ist leider nicht nur im Fall Armstrong und Dopping so, sondern auch in der zunehmend personalisierten Wirtschafts- und Politik-Berichterstattung.
    Hanspeter Guggenbühl

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