Unehrlich: Die «freie Arztwahl» ist noch lange nicht bedroht
Die Mehrheit im Parlament möchte den Krankenkassen erlauben, künftig einzelne Ärzte und Ärztinnen von der Grundversicherung auszuschliessen. Es dürfte sich um schwarze Schafe handeln, welche unzweckmässig oder viel zu aufwändig behandeln.
Das heutige Honorarsystem führt dazu, dass Ärzte mehr verdienen, je länger sie ihre Patienten behandeln. Sie verdienen mehr, wenn es länger geht, bis sie ihre Patienten wieder gesund bekommen. Das nützen schwarze Schafe unter den Ärzten aus.
Doch die Standesorganisation FMH und sämtliche Ärzteorganisationen und – im Chor mit ihnen – vor allem linke Politikerinnen und Politiker malen den Teufel an die Wand, falls das Parlament die Kassen nicht mehr wie bisher zwingen sollte, sämtliche Ärzte und Ärztinnen ohne Ausnahme unter Vertrag zu nehmen.
Ihr Totschlagargument: Patientinnen und Patienten hätten «keine freie Arztwahl» mehr. Viele Versicherte müssten ihren von der Kasse nicht mehr bezahlten Hausarzt oder aber ihre Krankenkasse wechseln. Sollten jedoch alle grossen Kassen einen bestimmten Arzt ausschliessen, gäbe es dafür wohl auch einen guten Grund.
Das Gegenteil von «freier Arztwahl» wäre die Zuweisung des Arztes und das Verbot, den Hausarzt zu wechseln. Oder eine Analogie: Hat man etwa keine freie Wahl mehr, einen Joghurt auszuwählen, wenn Migros oder Coop eine der vielen Marken aus dem Sortiment nehmen?
Korrekt ist es, von einer «leicht eingeschränkten Arztwahl» zu reden.

In den Tamedia-Zeitungen schrieb Markus Brotschi, das Volk werde sich in einer Abstimmung sicher «für die freie Arztwahl» aussprechen.
Er suggeriert damit irreführend, dass man unter Ärzten nicht mehr frei wählen könnte.
In der NZZ titelte Simon Hehli: «Freie Arztwahl, ade»:

Das ist eine unseriöse Schwarzmalerei, wie folgende Fakten belegen:
- Die freie Arztwahl würde nicht abgeschafft, sondern lediglich ein ganz klein wenig eingeschränkt. Gegenwärtig kann jeder Patient und jede Patientin mit der normalen Grundversicherung über 17’000 Haus- und Spezialarztpraxen im ganzen Land ohne Mehrkosten aufsuchen.
- Wichtiger als die freie Wahl unter sämtlichen Praxisärzten wäre die freie Wahl des Chirurgen im Spital. Denn im Spital geht es um die Wurst – um eine erfolgreiche oder eine missglückte Operation und um vermeidbare schwere Komplikationen. Doch im Spital können Grundversicherte ihren Arzt nicht wählen. Eine freie Arztwahl im Spital hat bei uns nur, wer sich eine teure Privatversicherung leisten kann.
Die Gegner einer Lockerung des Zwangs der Kassen, sämtliche Arztpraxen ohne Ausnahme unter Vertrag zu nehmen, argumentieren mit der freien Arztwahl. Doch in Spitälern fordern sie keine freie Arztwahl. Das macht sie unglaubwürdig. - «Drei Viertel der Schweizerinnen und Schweizer schränken ihre Arztwahl (schon heute) freiwillig zugunsten eines alternativen Versicherungsprodukts ein», stellt das Forum für integrierte Versorgung fest. Ein Drittel aller Prämienzahlenden hat ein Hausarztmodell gewählt: Ausser bei Notfällen suchen Erkrankte zuerst einen der Hausärzte auf, die mit den Kassen einen Vertrag abgeschlossen haben. Ein zweites Drittel der Versicherten hat ein Hausarztmodell gewählt, bei dem sie zuerst eine beliebige Hausärztin oder einen beliebigen Hausarzt aufsuchen müssen. Die Kassen bieten noch zusätzliche Modelle mit eingeschränkter Arztwahl an.
Mit diesen Hausarztmodellen, bei denen die Arztwahl eingeschränkt ist, lassen sich bis zu 20 Prozent Prämien einsparen, erklärt das Bundesamt für Gesundheit. Viele Versicherte machen davon Gebrauch.
Daraus folgt: Der Mehrheit der Prämienzahlenden ist die Kosteneinsparung wichtiger als die freie Wahl unter sämtlichen 17’000 Arztpraxen und Arztzentren. Oder mit anderen Worten: Für diese zwei Drittel aller Versicherten hätte die im Parlament diskutierte Gesetzesvorlage praktisch keine Folgen. - Die Wahl eines günstigeren Hausarztmodells ist für Versicherte nicht nur finanziell von Vorteil. Denn das freie Aufsuchen von Spezialarzt-Praxen ist mit hohen Risiken behaftet: Unzählige Patientinnen und Patienten lassen sich zu diagnostischen Verfahren, Eingriffen und Behandlungen überreden, die ihnen nichts nützen, sondern nur schaden und die Solidarität der Prämienzahler strapazieren.
Je mehr gynäkologische Chirurgen in einer Gegend praktizieren, desto mehr Frauen haben keine Gebärmutter mehr. Je mehr Herzspezialisten in einer Gegend, desto mehr Patienten unterziehen sich ohne Nutzen einer risikobehafteten Katheteruntersuchung und noch risikoreicheren Herzeingriffen. Die vielen Überbehandlungen machen die Patientinnen und Patienten nicht gesünder, sondern setzen sie einem unnötigen Risiko aus. Die betroffenen Patienten glauben dann fälschlicherweise, der Eingriff habe sie vor Schlimmerem bewahrt.
Auch aus diesen Gründen müssen sich Grundversicherte in den meisten Ländern Europas vom Hausarzt an Spezialärzte zuweisen lassen (ausser Gynäkologie- und Kinderärzte). - Die Kassen würden sich ins eigene Fleisch schneiden, wenn sie gute, beliebte und seriöse Ärztinnen und Ärzte nicht mehr unter Vertrag nähmen und bezahlten. Denn das Letzte, was sie wollen, sind Kündigungen ihrer Mitglieder. Wenn jedoch schwarze Schafe unter der Ärzteschaft mit Kassen nicht mehr abrechnen können, profitieren auch Patientinnen und Patienten davon.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Eigene Erfahrung: Von 1980-2011 führte ich eine Neurologische Praxis. Ich habe immer nur die nötigen Kontrollen und Untersuchungen gemacht. Z.B. genügt ein Telefon, um zu sagen, dass es besser geht. Trotzdem habe ich mir, wenn es begründet war, jeden erdenklichen medizinischen Luxus geleistet: Labor, CT, MR, teure MS-Behandlungen. Mit dieser Politik lagen die Durchschnittkosten pro abgeschlossener Fall bei mir immer 25-33 Prozent unter dem Durchschnitt meiner Fachkollegen. Das heisst bei den Kollegen im oberen Bereich kostete ein abgeschlossener Fall doppelt so viel. Es bleibt keine andere Schlussfolgerung, als dass vielerorts massiv überarztet wird. Z.B. bot ein Kollege (Professor) eine MS-Patientin während Jahren vier mal pro Jahr zu einem teuren Elektroencephalogramm auf, obschon sie nie Anfälle hatte und bei MS nichts zu erwarten ist. So macht man Umsatz. Dass linke Politiker diesen Unfug decken wollen überrascht mich nach Jahren in der Politik leider nicht.
Ein Argument scheint mir zu fehlen: Ich kann jeden Arzt wählen, wenn ich ihn bezahle! Würde ich den Eingriff auch machen, wenn ich diesen selber bezahlen müsste, scheint mir immer eine Überlegung wert./ Danke an den Autor für alle andern Argumente.
In einem Gesundheitssystem ohne transparente adäquate Q-Sicherung von Indikation & Outcome stellt die freie Arztwahl die letzte Option zur Wahrung von Patientenwohl & Würde dar!
Bei Einschränkung dieser, wie in der CH bereits bei Managed Care Hausarztmodellen (3. Klassmedizin) oder dem Apothekenmodell MEDBASE (4. Klassmedizin) vorliegend, beginnen die Versicherten die Patientenströme med. willkürlich gezielt nach rein ökonomischen gewinn- & profitoptimierenden Eigeninteressen zu steuern. D.h.: Bei Aufhebung der freien Arztwahl (& des Kontrahierungszwangs) werden vorzugsweise nur noch die günstigsten Anbieter vertraglich berücksichtigt.
Ohne adäquate Q-Sicherung von INDIKATION & Outcome besteht somit die Gefahr, dass der Patient nicht mehr med. „zweckmässig“ behandelt wird (siehe Deutschland!). Mit entsprechender Q-Sicherung können „Schwarze Schafe“ so zusätzlich erkannt & ausgeschlossen werden, um Patientensicherheit & Kosteneffizienz gemäss KVG mit WZW langfristig wahren zu können!