Sozialhilfe: Die Anreize zum Abschieben müssen weg
Red. Professor Silvano Moeckli von St. Gallen schlägt eine Strukturreform der Sozialhilfe vor mit dem Ziel, Gemeinden zu entlasten und Kinder und Jugendliche aus sozial und wirtschaftlich schwachen Familien stärker zu unterstützen.
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Das Beispiel Rorschach
«Wahlkampf mit Sozialhilfe» betitelte die «Rundschau» des Schweizer Fernsehens vom 25. Februar 2015 einen Report über einen Fall in Rorschach, bei dem einer Sozialhilfeempfängerin die Anmeldung auf dem Einwohneramt verweigert wurde. Die arbeitslose dreifache Mutter hätte die Stadt, die für Sozialhilfe jährlich 2,4 Millionen Franken ausgibt, weitere 140’000 Franken pro Jahr gekostet. Das Angebot günstiger Wohnungen in Rorschach zieht Sozialhilfeempfänger fast magisch an: Die Sozialhilfequote betrug 2013 4,2 Prozent, bei den bis 18-Jährigen sogar 7 Prozent.
Der hohe Steuerfuss spielt keine Rolle, denn Sozialhilfeempfänger zahlen ja keine Steuern. Auf der anderen Seite mindert die hohe Steuerbelastung die Attraktivität der Stadt für Gutsituierte. Die Steuerkraft pro Einwohner war 2013 mit 1600 Franken bescheiden. Ein Teufelskreis.
In Hagenbuch im Kanton Zürich musste die Bürgerschaft einer Steuerfusserhöhung von 6 Prozent zustimmen. Ursache war eine Flüchtlingsfamilie aus Eritrea, die 60’000 Franken monatlich kostete.
Strukturelle Probleme
Die ungleiche Verteilung der Kosten auf die Gemeinden bei der Sozialhilfe ist eines der strukturellen Probleme in diesem Politikbereich. Weitere Probleme sind
- die missbräuchliche Inanspruchnahme und Verwendung der Sozialhilfe;
- die hohe Zahl von Kindern und Jugendlichen unter den Sozialhilfeempfängern sowie
- «unkooperatives Verhalten» von Sozialhilfeempfängern.
Nun sollen die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) verschärft werden, wie die Sozialdirektoren am 22. Mai beschlossen haben.
Mit dieser Verschärfung werden aber die strukturellen Probleme bei der Sozialhilfe nicht angegangen, und niemand wird ernsthaft glauben, dass die Kosten der Sozialhilfe durch die geplanten Massnahmen eingedämmt werden können.
Vielmehr braucht es eine gerechtere Verteilung der Kosten und die Verminderung des Drucks auf Gemeindebehörden und Sozialämter, die Fälle durch Verschiebung der Kosten zu «lösen». Realwirtschaftlich gespart wird heutzutage im Bereich der Sozialleistungen wenig; man befindet sich eher auf einem Verschiebebahnhof.
Zu viele Kontaktabbrüche
Ziel der Sozialhilfe muss sein, die Betroffenen zu befähigen, wirtschaftlich wieder auf eigenen Füssen zu stehen. Dieses Ziel ist schwer zu erreichen. Die Fachstelle für Statistik des Kantons St. Gallen hat im April 2015 eine interessante Studie über «Sozialhilfe und weitere bedarfsabhängige Sozialleistungen im Kanton St. Gallen» publiziert. Nur in einem Drittel der Fälle konnte die Sozialhilfe durch eine Verbesserung der Lebenssituation beendigt werden:
Aus diesen Gründen wurde die Sozialhilfe beendet (grösseres Format der Grafik hier)
«Wechsel des Wohnortes» oder «Kontaktabbruch» heisst, dass das Problem an anderer Stelle anfällt. In 13 Prozent der Fälle wurde die Sozialhilfe durch eine IV-Rente abgelöst.
Sozialhilfe und Lebensalter
Anteilsmässig machen die 0- bis 17-Jährigen den grössten Teil der Sozialhilfeempfänger aus. Genaugenommen sind aber nicht diese Kinder und Jugendlichen sozialhilfeabhängig, sondern ihre Eltern oder Elternteile, die für den Unterhalt ihrer Kinder nicht aufkommen können. Im Kanton St. Gallen erhielten 3,5 Prozent dieser Altersgruppe Sozialhilfeleistungen, insgesamt fast 3’200 Personen. Schweizweit waren es 2013 5,2 Prozent, insgesamt 76’000 Personen, und in der Stadt Zürich 2014 sogar 9,8 Prozent. Ein grosser Teil von ihnen ist nichtschweizerischer Nationalität, denn die Sozialhilfequote ist unter der ausländischen Bevölkerung dreimal so hoch wie unter der schweizerischen.
Generöse Unterstützung würde sich gesamtwirtschaftlich lohnen
Was bedeutet die Sozialhilfeabhängigkeit der Eltern für die Lebenssituation und die Lebenschancen dieser Kinder und Jugendlichen? Wenn sie keine gute berufliche Qualifikation erreichen oder wenn sie gar auf die schiefe Bahn geraten, kommt das den Staat, die Sozialversicherungen und die Steuerzahler später viel teurer zu stehen als eine generöse Unterstützung im jungen Lebensalter. Nur: Die Kosten fallen dann woanders an, nicht mehr bei den unterstützenden Gemeinden.
Das Problem des Missbrauchs
Wo der Staat Steuergelder ausgibt oder einfordert, muss kontrolliert werden. Das gilt auch für die Sozialhilfe. Eine andere Frage ist, ob gerade bei den sozial Schwächsten am stärksten kontrolliert werden soll. Ökonomisch gesehen ist Sozialhilfe eine staatliche Beihilfe, also eine Subvention. Fast 60 Prozent der Bundesausgaben sind Subventionen – Steuererleichterungen nicht eingerechnet.
Ein Blick auf die Datenbank der Subventionen lohnt sich. Würde überall so genau hingeschaut wie bei der Sozialhilfe, käme vermutlich noch einiges zum Vorschein. Bei der Sozialhilfe wird die Subvention an eine Person oder eine Familie ausgerichtet, und die missbräuchliche Inanspruchnahme oder Verwendung hat ein Gesicht. Jeder Missbrauchsfall hat das Potenzial zu einer süffisanten Geschichte. Solange die Sozialhilfe durch kommunale Steuermittel finanziert wird, hat der Bürger eher das Gefühl, hier würden «seine» Steuergelder missbräuchlich verwendet.
Erwerbsarbeit muss sich lohnen
Politisch weitgehend unbestritten ist, dass jemand, der Sozialhilfe bezieht, in ähnlicher Lebenssituation nicht bessergestellt werden darf als jemand, der einer Erwerbsarbeit nachgeht. Arbeit muss sich lohnen. Der sogenannte Schwelleneffekt – wer eine Erwerbsarbeit aufnimmt, hat weniger verfügbares Einkommen als mit dem Bezug von Sozialhilfe – muss beseitigt werden. Auch ist der «Earned Income Tax Credit» für Erwerbsfähige nochmals zu prüfen. Viel grosszügiger sind wie erwähnt die betroffenen 76’000 Kinder und Jugendlichen zu unterstützen. Hier reicht Geld allein nicht aus. Sie brauchen Kinderkrippen, Spielgruppen, soziale Räume, Freizeiteinrichtungen, Beratung und Begleitung.
Allzu zahmer Vorschlag
Ende Februar hat der Bundesrat einen Vorschlag für einen Verfassungsartikel zur Existenzsicherung präsentiert. Dieser ist etwas gar zahm ausgefallen. Sinnvoll ist, dass die Kantone und Gemeinden weiterhin administrativ für die Sozialhilfe zuständig sind. Der Bund sollte indessen Richtlinien für die Leistungen der Sozialhilfe sowie die Bedingungen für den Bezug erlassen und sich auch an der Finanzierung beteiligen, wie es bei anderen Bedarfsleistungen auch der Fall ist.
2012 zahlte der Bund 32 Prozent aller bedarfsabhängigen Leistungen von 12,7 Milliarden Franken. So beteiligt sich der Bund an der Finanzierung der Ergänzungsleistungen, der Prämienverbilligungen und deckt die Kosten der Sozialhilfe im Asyl- und Flüchtlingsbereich.
Im Verhältnis zu den Gesamtausgaben des Bundes von 163 Milliarden für soziale Sicherheit und Kosten von 4,5 Milliarden für Ergänzungsleistungen sind 2,4 Milliarden für die Sozialhilfe verkraftbar. Sowohl Ergänzungsleistungen als auch Sozialhilfe werden aus allgemeinen Steuermitteln finanziert.
Vorteile einer Befreiung der Gemeinden
Eigenartig ist, dass die Ergänzungsleistungen statistisch unter «Sozialversicherungen» figurieren. Eine Finanzierung der Sozialhilfe ausschliesslich durch Kantone und Bund würde wie erwähnt
- viel Druck von den Gemeindebehörden nehmen und
- den unwürdigen «Abschiebewettbewerb» erübrigen.
- Die periodisch geführten Diskussionen über die Skos-Richtlinien entfielen, ebenso
- der ganze administrative Aufwand und zahlreiche Aktivitäten für die Koordination.
Ein Bundesgesetz unterstünde dem Referendum und wäre demokratisch abgestützt. Der jahrhundertelange Weg von der lokalen «Heimatgemeinschaft» zur nationalen Solidargemeinschaft wäre endlich am Ende. Es liegt in einer erfolgreichen Wirtschaft im nationalen Interesse, wenn die Verlierer der Globalisierung und der Zuwanderung abgefedert werden.
Mit einer breiteren Verteilung wird auch den externen Kosten Rechnung getragen, die «irgendwo» anfallen, wenn sozialhilfeabhängige Kinder und Jugendliche perspektivlos bleiben. Die Betrachtung muss ganzheitlich aus der Sicht der Volkswirtschaft und der Gesellschaft geschehen, nicht aus Sicht der Gemeindekassen. Kosteneinsparungen im Staatshaushalt würde es geben, wenn auch nicht in der Sozialhilfe-Statistik.
Keine föderale Befindlichkeit
Gewiss: Die Widerstände gegen eine Kompetenz des Bundes bei der Sozialhilfe sind enorm. Bundesgelder nimmt man gern, aber ohne Einmischung in kantonale Angelegenheiten. Es geht aber im Kern nicht um föderale Befindlichkeiten, sondern um die staatspolitisch wichtige Frage, ob es in der reichen Schweiz möglich ist, bei der Sozialhilfe ein System zu etablieren, das den sozial schwächsten Menschen eine würdevolle Unterstützung zukommen lässt mit dem Ziel, dass sie wieder ihr eigenes Auskommen finden. Es kann dem Ganzen auf Dauer nicht gut gehen, wenn es einer Viertelmillion Menschen in unserem Land schlecht geht.
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Dieser Artikel erschien unter anderem Titel in der NZZ vom 1. Juli 2015
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Silvano Moeckli ist Titularprofessor für Politikwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der empirischen Sozialforschung und des Vergleichs politischer Systeme an der Universität St. Gallen. Moeckli ist Autor das Buchs «Den schweizerischen Sozialstaat verstehen», das einen ausgezeichneten Überblick verschafft.
11’666.- Fr. x Monat für eine Sozialhilfeempfängerin mit 3 Kinder scheint mir sehr viel Geld zu sein (140’000.- geteilt 12). Die Gemeinde hat richtig (im eigenem Interesse und den der Steuerzahler), gehandelt.
Ich denke es hat viele Familienväter die auch ein 4 Personen Haushalt führen die aber mit viel weniger auskommen müssen, arbeiten aber dafür !
Es wird in der Sozialhilfe viel zu viel Geld verteilt, daher auch die immer grösser werdende Anzahl Bezüger. Es ist auch zu einfach an diese Gelder heran zu kommen.
Und die Tatsache dass so viele jugendliche SCHON in der „Sozialhilfe hängen“ finde ich einen Skandal. Und die Unternehmen finden nicht genügend Lehrlinge. Da stimmt etwas nicht.
Als ich als junge 18 Jährige nach Zürich kam, hatte ich 80 Fr. in der Tasche, kein Job, kein Zimmer, nichts. Ich habe mich bei der Hilfsarmee am Helvetia Platz einquartiert für Fr. 1.80 die Nacht. Um 22.00 wurden die Sicherungen herausgezogen, es wurde dunkel.
Heute geht es mir trotzdem gut, ich vermute weil ich kämpfen musste, mich weiterbilden, hocharbeiten … Heute bin ich froh habe ich diesen weg gewählt.
Die Idee dass der Bund diese Gelder bezahlt ist natürlich bestechend aber es würde zu noch HÖHERE Zahl Empfänger führen da „die Anonymisierung“ dies fördern würde.
So geschehen in den Grossstädte wo die Leute nicht so unter Beobachtung stehen.
Beamte die kein Bezug zu den ausbezahlten Summen haben müssen (eigene Gemeinde, eigene Steuern), verteilen viel leichter.
Das Hauptproblem in der Sozialhilfe bleibt die Organisation: Die Gemeinde/Städte sind verantwortlich für die Sozialhilfe. Was heisst, in der Schweiz braucht es ca 2700 (etwa so viele Gemeinden gibt es in der Schweiz) Informatiksysteme, Dedektive, Sozialspezialisten usw. Die allermeisten Gemeinden haben kein Geld für Kontrollen, Spezialisten, Sozialhilfebezüger zu betreuen oder auch nur eine halbwegs anständige Abrechnung zu machen. Das einizige was die Gemeinden interessiert, sind die Kosten abzuschieben (in andere Gemeinden).
Und nicht einmal die Stadt Zürich (Gemeinde mit Abstand am meisten Sozialhilfebezüger in der Schweiz) hat genügend Resourcen, um etwa anständige Monatsabrechnungen zu machen. Völlig diletantisch wie sie bei mir nur
Handgelenk X PI Abrechnungen machten, 2-3 Monate zuviel oder zuwenig ausgezahlt, ist mir selbst mehrmals passiert! Diese Sozialhilfe ist wie ein Selbstbedinungsladen und Einladung für kriminelles Handeln!
Andererseits CHF 951.– plus Miete plus Krankenkasse genügt oftmals nicht einmal für das Existenzminimum. Da kann man kaum einmal mit Freunden in ein Restaurant etwas Trinken gehen.