Rechenfehler der IV: Experten lassen Bersets Bluff auffliegen
Es war eine Schmach für Alain Berset. Im Nationalrat verlor er kürzlich eine Abstimmung gleich mit 0:170. Das Parlament hatte kein Erbarmen gehabt mit seinem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV). Dieses berechnet Renten seit vielen Jahren wissentlich zu tief. Grund sind unpräzise und ungeeignete Basisdaten – die sogenannten Tabellenlöhne, die vom Bundesamt für Statistik stammen. Über dieses Problem weiss die Verwaltung seit vielen Jahren Bescheid, hat jedoch nichts dagegen unternommen. Eine Motion will dem Amt nun Beine machen. Bis Ende Juni 2023 sollen die Grundlagen für eine fairere Berechnung vorliegen, so die Forderung. Bersets Plädoyer, dass dies «völlig unrealistisch» sei, verhallte ungehört. Der Vorstoss passierte ohne Gegenstimme.
Im Ständerat beginnt nun der Poker erneut. Berset hält allerdings erneut sehr schlechte Karten in der Hand. Just gestern Dienstag – wenige Tage vor der Beratung in der zuständigen Ständerats-Kommission – zerpflückte Philipp Egli, Leiter des Zentrums für Sozialrecht an der ZHAW, in einem Beitrag auf der Plattform iusNet die wichtigsten Argumente des Bundesrats.
Berset hatte gefordert, erst die Folgen der eben in Kraft getretenen neuen IV-Verordnung zu evaluieren. Diese sieht anderweitige Änderungen bei den Berechnungen der IV-Renten vor. In seinem Fachartikel geht Egli den verschiedenen Neuerungen auf den Grund und kommt vereinfacht gesagt zum Schluss, dass das eine mit dem anderen nicht zusammenhängt. «Keines der neuen Instrumente löst das Problem der Tabellenlöhne», sagt Egli auf Anfrage. Viel eher habe das Amt die Sache «verschlimmbessert», da es mit dem sogenannten leidensbedingten Abzug sogar noch ein bestehendes Korrekturinstrument abgeschafft habe. Dieser ermöglicht im Einzelfall, dass nicht mit zu hohen Vergleichslöhnen gerechnet wird.
Zeitdruck? Fachleute halten Frist für realistisch
Egli hat eher das Gefühl, dass das Amt auf Zeit spielt. Denn das Problem sei seit mittlerweile 20 Jahren bekannt. 2013 habe das Bundesamt für Statistik sogar mögliche Alternativen vorgeschlagen. Diese blieben aber liegen. Dass das BSV das Problem selbst dann nicht anging, als sich letztes Jahr mit der Revision der IV-Verordnung die ideale Gelegenheit dazu bot, kann er nicht verstehen. «Dass nun ausgerechnet diese Revision der Grund dafür sein soll, um weiter zuzuwarten, mutet seltsam an.» Seinen Fachartikel schliesst Egli mit deutlichen Worten gegenüber der Verwaltung. «Die wissenschaftlichen Grundlagen dazu liegen vor. Was fehlt, ist die Umsetzung. Für sie gilt: ‹Wo ein Wille, ist ein Weg; wo er fehlt, sind viele Ausreden.’»
Nötig ist die Änderung also allemal, und eine weitere Evaluation gemäss diesen Ausführungen überflüssig. Doch ist die von der Motion gesetzte Frist von einem Jahr überhaupt einhaltbar? Keinesfalls, sagte Berset vor dem Nationalrat. Er bezeichnete den Fahrplan als «völlig unrealistisch.» Sein BSV will sich bis 2025 Zeit lassen.
Doch auch dies ist ein gewagter Bluff des Bundesrats. Denn eine von Wissenschaftlern erarbeitete Lösung liegt bereits auf dem Tisch. Diese wurde zwar zunächst nur für Personen mit körperlichen Einschränkungen entwickelt und müsste noch für Menschen mit geistigen und psychischen Einschränkungen erweitert werden. Dazu sei die Bildung einer Arbeitsgruppe bestehend aus entsprechenden Fachleuten nötig, wie Urban Schwegler von der Schweizer Paraplegiker-Forschung in Nottwil und Entwickler des Tools, sagt. Gemäss Schwegler nimmt die Verlinkung der Berufe aus dem Tool mit den Tätigkeiten aus den Tabellen des Bundes etwa «drei Wochen Vollzeitarbeit» in Anspruch. Gleichzeitig müsse die Arbeitsgruppe psychische und geistige Schlüsselanforderungen für die Tätigkeiten bestimmen und das Bundesamt für Statistik die neuen Tabellenlöhne berechnen. Da die Schritte teilweise parallel erfolgen können, sollte es möglich sein, die neuen Tabellen bis im Sommer 2023 zu erstellen, so Schwegler. «Es hängt jedoch davon ab, ob sich das BSV für die Methode entscheidet und bereit ist, die entsprechenden Ressourcen in das Projekt zu stecken.» Schwegler sagt, dass er den Ansatz Anfang Juli beim BSV vorstellen wird, worauf das weitere Vorgehen definiert werde.
Die Frist sei auch darum zu knapp, weil für eine Änderung eine Vernehmlassung erforderlich sei, argumentierte Berset vor dem Nationalrat. Alex Fischer von Procap Schweiz ist allerdings der Meinung, dass dies nicht nötig sei. Schliesslich sei die Invaliditätsbemessung bereits 2021 im Rahmen der Vernehmlassung zur Revision der IV-Verordnung zur Diskussion gestanden. Zahlreiche Parteien, Kantone und Verbände hatten sich zu diesem Punkt geäussert – allesamt forderten sie eine fairere Methode.
Geringverdienende werden aus der Versicherung rausgerechnet
Für Fischer ist es höchste Zeit, dass die IV vorwärts macht. Denn zahlreiche Renten sind aufgrund des Berechnungsfehlers seit Jahren zu tief, viele Geringverdienende werden dadurch quasi aus der Versicherung «rausgerechnet». Er sagt: «Viele einkommensschwache Versicherte arbeiten hart und zahlen jahrelang ein. Wenn sie die Versicherung dann brauchen, bekommen sie die Leistung nicht, die ihnen zusteht, weil man sie anhand von Löhnen misst, die sie aufgrund ihrer Behinderung gar nicht erreichen können.»
In diesen Tagen berät die Kommission über die Motion, danach kommt sie in den Ständerat. Dort kann Alain Berset versuchen, sich für die Klatsche im Nationalrat zu revanchieren. Einfach wird es nicht, nachdem Fachleute seinen Bluff haben auffliegen lassen. Doch mit offenen Karten kann der Bundesrat eben auch nicht spielen. Denn der wahre Grund für das Zeitspiel der Verwaltung dürfte ein anderer sein. Eine fairere Berechnung der Renten würde Hunderte Millionen von Franken kosten – für die hoch verschuldete IV ein Graus. Doch dieses Argument kann Berset nicht bringen. Denn die IV muss ihrem gesetzlichen Auftrag nachkommen, egal, wie viel Geld gerade im Kässeli ist.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Auch Herr Berset scheint in einigen Dingen eine Person zu sein, welche den Geleisen folgt, welche von höheren Kräften gelegt wurden. Unabhängig davon, ob das Resultat gut oder schlecht ausfällt. Kleinvieh macht auch Mist, dort ein wenig Kapital und hier ein wenig Kapital in diese Richtung verschieben, ergibt am Schluss auch ein paar Milliarden für andere vorbestimmte Zwecke. Wenn Grossmächte mit ihren Interessen und Neoliberalismus die kleine Schweiz unterwandern, wundert mich es mich nicht, das dort gespart wird, wo diejenigen sind, welche für die Schweiz sich krank gearbeitet haben. Die Urväter und Mütter der Schweiz drehen sich im Grabe um. Das bundesrätliche Kollegialitätsprinzip sollte abgeschafft werden, dann würden noch mehr Fehler an den Tag kommen, woraus man lernen könnte. Wer bei Amtsantritt eine geplünderte Kasse erbt, möchte ja nicht noch seinen Kopf dafür hinhalten, denn das Kollegialitätsprinzip verbietet ihm, die Plünderer beim Namen zu nennen.
Ist das vielleicht auch ein gutes Beispiel dafür, dass die Parteizugehörigkeit im BR keine Rolle spielt, also die «Zauberformel» irrelevant ist. Wie könnte es sonst sein, dass ein Sozialdemokrat ein Anliegen der sozialen Gerechtigkeit behandelt, als wäre er Mitglied der FdP oder gar SVP?
Zumindest in vorliegendem Fall ein eher unkonstruktives Parteien-Treten. Bei 0:170 haben offenbar auch die FDP und SVP Vertreter eine andere Meinung als Berset. Auch wenn ein Anti-FDP/SVP Reflex vorliegt, sollte man zuerst überlegen…