Long Covid dürfte kaum zu vielen IV-Renten führen
Noch immer leiden Tausende an den Langzeitfolgen einer Covid-19-Infektion. Über zwei Jahre nach der ersten Welle steht für viele von ihnen ein wegweisender Entscheid bevor: Werden sie auch langfristig vom Staat unterstützt, da sie keine Erwerbsarbeit mehr leisten können?
In der ersten Zeit wird der Erwerbsausfall in der Regel durch Taggelder der Krankenkasse gedeckt. Gleichzeitig wird, in Zusammenarbeit mit den IV-Stellen, eine schrittweise Rückkehr ins Erwerbsleben angestrebt.
Es gibt aber Menschen, die auch nach zwei Jahren nicht gesund sind, sondern im Gegenteil auf durchgehende Pflege und Betreuung angewiesen sind. Im Jahr 2021 haben sich gemäss Monitoring des Bundes 1764 Personen mit oder wegen Corona bei der IV angemeldet. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres waren es weitere 777. Das ist zwar kein grosser Tsunami wie befürchtet. Jedoch erfolgen die Anmeldungen verzögert, ausserdem dürften manche wegen mangelnder Erfolgsaussichten von Beginn weg davon absehen, sich bei der IV zu melden.
Bisher kaum Renten
Das Monitoring des Bundesamts für Sozialversicherung fürs Jahr 2021 zeigt auch, dass von den 1764 Anmeldungen bei rund einem Drittel Leistungen gesprochen wurden – der Rest wartet noch oder wurde abgewiesen. Von den abgeschlossenen Fällen sprach die IV nur in 6 Prozent oder bei jedem Sechzehnten eine Rente oder erhöhte diese. In 84 Prozent der Fälle wurde eine Eingliederungsleistung gesprochen. Der Rest sind andere Leistungen wie zum Beispiel Hilflosenentschädigungen. Übersetzt heisst das: Die IV unterstützt die Menschen bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Gelingt das nicht, stehen die Chancen auf eine weitere Unterstützung in Form einer Rente schlecht.
Wie viele Renten wegen Long Covid letztlich gesprochen werden, ist zwar noch offen, denn viele Verfahren sind noch hängig, zahlreiche werden dazu kommen. Und einige dieser Fälle werden letztlich vor Gericht landen. Fachleute, welche die Praxis der IV sowie die Haltung der Gerichte kennen, sind aber skeptisch, was die Erfolgsaussichten von Long Covid-Betroffenen betrifft. «Ein guter Teil wird das mit hoher Wahrscheinlichkeit selber berappen müssen», sagt der spezialisierte Zürcher Rechtsprofessor Thomas Gächter gegenüber dem Surprise Magazin. Und auch der Luzerner Anwalt Luzius Hafen erwartet aufgrund der seit Jahren restriktiven IV-Praxis «nicht massenhaft Renten».
Grund für die Skepsis ist der Umgang der IV mit sogenannten unklaren Beschwerdebildern. Seit Jahren gibt es für diese nur äusserst selten IV-Renten, obwohl manche Betroffene nachweislich schwerkrank sind. Bekanntestes Beispiel ist die Multisystem-Krankheit ME/CFS, an der neusten Studien zufolge auch ein Teil der Long Covid-Betroffenen leidet.
Vor einigen Jahren hatte das Bundesgericht für einen Hoffnungsschimmer gesorgt, dass sich dies ändern könnte. Es passte seine Praxis an mit dem Ziel, dass die Verfahren dem Einzelfall gerecht und damit fairer werden. Doch mehr Renten gab es gemäss Studien dennoch nicht. Der Luzerner Anwalt Christian Haag vom Verband Covid Langzeitfolgen hat die Erklärung dazu. Durch die neue sogenannte Indikatorenpraxis könnten IV-Stellen immer etwas finden, womit sie die IV-Anträge ablehnen können. «Geht jemand häufig in die Kirche, spaziert regelmässig mit dem Hund oder schreibt zu oft in einer Facebook-Gruppe, heisst es von der IV: ‹Wer das kann, kann auch arbeiten’».
Die IV spart sich gesund – auf Kosten kranker Menschen
Die schwer defizitäre IV steht seit Jahren in der Kritik, sich auf Kosten kranker Menschen gesund zu sparen. Verschiedene Skandale kamen ans Licht. So schrieben finanziell von der IV abhängige Gutachter kranke Menschen mit Copy-Paste-Methoden praktisch im Akkord gesund und verdienten damit über die Jahre Millionen. Später kam ans Licht, dass die IV die Renten mit völlig ungeeigneten Zahlen berechnet, weswegen viele Geringverdienende ganz leer ausgehen.
Von der IV heisst es, dass jeder eine Rente bekommt, der Anspruch hat. «Dass die IV restriktiver geworden ist, war ein politischer Entscheid. Es ist unser gesetzlicher Auftrag, die Entscheide umzusetzen. Eine Bewertung der Entscheide steht uns nicht zu. Kein Mitarbeiter bekommt einen Bonus, wenn er Renten streicht», so Astrid Jakob von der IV-Stellenkonferenz zum Surprise Magazin. Allerdings war es kein politischer Entscheid, weniger Renten zu sprechen. Das wäre gesetzeswidrig. Denn die Voraussetzungen, um unterstützt zu werden, sind seit eh und je dieselben. Viel eher gingen Politiker davon aus, dass durch mehr Wiedereingliederungen die Anzahl Renten reduziert werden können. Jedoch zeigt sich je länger desto mehr, dass dieses Potenzial überschätzt wurde. Nur 38 Prozent verdienen vier Jahre nach ihrer IV-Anmeldung 3000 Franken oder mehr. Dafür landen zahlreiche Abgewiesene in der Sozialhilfe, wie eine Untersuchung bestätigte.
Um fair zu sein, bräuchte die IV mehr Geld
Für Professor Gächter ist damit klar, dass die Politik den Spardruck der Verwaltungspraxis überwälzt. Dies sollte nicht sein. «Damit das Gesetz eingehalten wird, müsste die Politik entweder für zusätzliche Finanzierung sorgen oder dann halt die Leistungen nach unten korrigieren.» Oder anders gesagt: Um fair zu sein, hat die IV derzeit schlicht zu wenig Geld.
Einen Hoffnungsschimmer gibt es für Long Covid-Betroffene dennoch: Die IV-Gutachter arbeiten derzeit daran, Empfehlungen für den Umgang mit dem Krankheitsbild auszuarbeiten. Yvonne Bollag vom Basler Begutachtungsinstitut asim betont, dass Long Covid-Patienten nicht gemäss der strengen Richtlinien der unklaren Beschwerdebilder beurteilt würden, wenn überwiegend wahrscheinlich sei, dass die Symptome durch das Virus bedingt sind. Wichtig sei, dass Hausärzte Covid-Infizierte von Anfang an genau dokumentieren und den eigens für diese Zwecke erstellten sogenannten EPOCA-Bogen verwenden. Das heisst: Wer nachweisen oder zumindest nahelegen kann, dass es sich bei seinen Beschwerden tatsächlich um Langzeitfolgen einer Covid-Infektion handelt, hat bessere Chancen auf eine IV-Rente.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Long-Covid dürfte plusminus ME/CFS entsprechen.
Die WHO stuft ME/CFS seit 1969 als neurologische Erkrankung ein.
https://cfc.charite.de/fileadmin/user_upload/microsites/kompetenzzentren/cfc/Landing_Page/Kanadische_Kriterien_mitAuswertung.pdf
https://www.mecfs.de/daten-fakten/
Dr. med. Dirk Wiechert:
https://www.youtube.com/watch?v=3d0xBB3uhS8
Mikrokoagulation:
https://kernls.com/projects/diagnose-longcovid-microclots