Kommentar
Ehrlich wäre: Die IV braucht mehr Geld
«Tout va très bien, Madame la Marquise», heisst ein Chanson, in dem eine Adelsfrau nach einem Tag auswärts zurückkommt und nach Neuigkeiten fragt. Das Pferd ist tot, aber abgesehen davon: «Tout va très bien», so der Diener. Und ach, der Stall sei abgebrannt, die Burg zerstört, ihr Ehemann habe sich umgebracht, aber abgesehen davon: «Tout va très bien, tout va très bien.»
Einer der höchsten Richter der Schweiz rezitierte gestern dieses Lied von Ray Ventura als Analogie zur Situation der Invalidenversicherung. Bernard Abrecht kritisierte die Haltung seiner KollegInnen. Diese hatten dafür gesorgt, dass das Bundesgericht eine Beschwerde, wonach die IV systematisch zu tiefe Renten berechne, mit 3:2 Stimmen abwies (siehe Kasten am Ende des Artikels). Studien hatten gezeigt, dass Invalide im Schnitt zwischen 10 und 20 Prozent weniger verdienen als Gesunde. Als Folge dessen sind viele Teilrenten zu tief, zahlreiche Rentengesuche werden abgewiesen. Betroffen sind vor allem Versicherte mit tiefen Einkommen. Der Zynismus in Abrechts Vergleich ist offensichtlich: Gar nichts ist gut, und nichtsdestotrotz wird getan, als sei alles in bester (Rechts-)Ordnung.
Das Chanson von der Marquise passt nicht nur zum gestern verhandelten Fall, sondern generell zur jüngeren Geschichte der Invalidenversicherung. In mehreren Revisionen hatte die bürgerliche Mehrheit im Parlament seit 15 Jahren die IV einem harten Sparkurs unterzogen. Die Schwierigkeit dabei: Eine Sozialversicherung muss alle unterstützen, die einen rechtlichen Anspruch haben – und nicht nur solange genügend Geld in der Kasse ist. Es brauchte also einen Weg, um zu sparen, ohne aber das Recht der Versicherten zu verletzen. Das Narrativ, das die Politik bastelte, hiess: «Eingliederung vor Rente». Statt mit einer IV-Rente zu leben, sollen die Menschen zurück in den Arbeitsmarkt. Alle sind gesund, und die IV spart, so die schöne Idee.
Tout va très bien, tout va très bien.
Leider funktionierte das nicht annähernd so gut wie beabsichtigt. Nach vielen Jahren, unzähligen abgelehnten Gesuchen und aufgehobenen Renten, kam ans Licht, dass viele statt auf dem Arbeitsmarkt in der Sozialhilfe landeten.
Vor den Gerichten, die es im Einzelfall genau wissen wollten, musste die IV schon früher härteres argumentatives Geschütz auffahren. Der Versuch, die Rentenkürzungen zu begründen, ohne dabei auf den wahren Grund – die Kosten – einzugehen, nahm fast schon abenteuerliche Züge an. So kämpfte die IV jahrelang und bis heute juristisch gegen die Realität – amtlich und offiziell. Verunfallte Bauarbeiter, argumentierte sie vor Gericht beispielhaft, könnten trotz Rückenbeschwerden als Parkplatzwächter oder Museumswärter arbeiten. Die Kläger erwiderten: Es gibt doch heute gar keine Parkplatzwächter und Museumswärter mehr. Doch gemäss einer umstrittenen Passage im Gesetz spielen solche Realitäten auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich keine Rolle. Das Bundesgericht bestätigte: alles rechtens.
Tout va très bien, tout va très bien.
Vor zwei Jahren dann der Skandal um die sogenannten Falschgutachter. Im Visier: Ärztinnen und Ärzte, die über die Jahre Milllionen mit Aufträgen von der IV verdienten und auffällig viele Menschen gesund schrieben. Copy-Paste-Methoden, psychiatrisches Speeddating und aus dem Ausland eingeflogene Medizinerinnen und Mediziner: Das Unrecht war augenfällig. Die Politik beschloss einige Verbesserungen, doch am Grundsatz änderte sich nichts. Die Gutachter, die massgeblich über die Vergabe von IV-Renten entscheiden, gelten nach wie vor als unabhängig. Das Bundesgericht argumentierte: die IV sei nicht Partei, sondern neutral.
Tout va très bien, tout va très bien.
Doch auch das wurde widerlegt, als publik wurde, dass das Bundesamt für Sozialversicherungen einzelne kantonale IV-Stellen angewiesen hatte, ihre Rentenquoten zu senken – der Beweis dafür, dass eben doch eine Rolle spielte, wie viel Geld noch in der Kasse ist. Nach Bekanntwerden verbot Bundesrat Alain Berset schliesslich solche Zielvereinbarungen.
Und nun also der Skandal um die falsche Berechnung der IV-Renten, von dem das zuständige BSV nachweislich seit vielen Jahren wusste und der im Grundsatz von niemandem bestritten wird. Der Elefant im Raum: Ein faireres Abklärungsverfahren würde die IV zwischen 300 und 400 Millionen Franken kosten. Es ist vor dem Hintergrund der nach wie vor hohen Schulden der IV (rund 10 Milliarden Franken) naheliegend, dass dies der wahre Grund ist, warum das BSV sich gegen eine Praxisänderung sperrt. Offiziell sagt das niemand. Denn damit würde man zugeben, dass zu wenig Geld in der Kasse ist. Genau diese Ehrlichkeit wäre aber nötig. Dann könnte über Lösungen diskutiert werden, sei es über einen Schuldenschnitt bei der AHV, über zusätzliche Lohnabgaben für die IV oder andere Formen der Zusatzfinanzierung. Manches davon käme einem politischen Erdbeben gleich. So aber wird das Problem mit Scheindiskussionen aufgeschoben, die stets mit demselben zynischen, seit gestern auch vom Bundesgericht abgesegneten Fazit enden:
Tout va très bien, tout va très bien.
Auch Mani Matter half nichts: Alles bleibt beim Alten
Am Fall, der gestern vor dem Bundesgericht verhandelt wurde, klagte ein ehemaliger Maschinenführer, der wegen verschiedener gesundheitlicher Probleme seit 20 Jahren nicht mehr voll arbeitsfähig ist, gegen die IV-Stelle Luzern. Er forderte vor dem Bundesgericht mit Verweis auf die unpräzise Berechnungsmethode der IV eine höhere Rente.
Einer grundsätzlichen Praxisänderung, wie von Behindertenvertretenden erhofft, erteilte das höchste Gericht jedoch eine Abfuhr. Seit Anfang 2022 ist eine neue IV-Verordnung in Kraft. Da der Fall aber nach altem Recht zu beurteilen ist, wolle man nicht mit einem bald überholten Leitentscheid vorgreifen. Damit wird auch in Zukunft mit der umstrittenen Methode, die sich auf eine ungeeignete Datenbasis stützt, gerechnet.
In der öffentlichen Verhandlung versuchten die Bundesrichter Martin Wirthlin und Bernard Abrecht (beide SP) erfolglos, zumindest «Justierungen» an der jetzigen Rechtssprechung anzubringen. Diese hätten es etwa möglich gemacht zu berücksichtigen, dass das Alter des Klägers von 57 Jahren die Stellensuche erschwert und ihm letztlich eine halbe statt eine Viertelsrente eingebracht.
Auch nach vierstündiger Verhandlung waren sich die Richterinnen und Richter nicht einig. Wirthlin zitierte darum Mani Matter, der in «Ir Ysebahn» von vier Personen sang, die in einem Zugabteil sassen: «Zwei fahre vorwärts, zwei rückwärts – Jede bhouptet eifach – So win ärs gseht sigs richtig – Und scho heisi Krach – Si gäbe enander mit Schirme ufs Dach.»
Bloss: Im Gegensatz zur «Ysebahn» waren die höchsten Richter im Verhandlungssaal zu fünft. Es kam zu einem eindeutigen Ergebnis, ohne dass Schirme ausgepackt werden mussten. Die beiden SVP-Richterinnen Alexia Heine und Daniela Viscione sowie der CVP-Mann Marcel Maillard setzten sich gegen die beiden SP-Richter durch, weswegen die Beschwerde abgelehnt wurde und alles beim Alten bleibt. Mit dem sogenannten «leidensbedingten Abzug» sei ein Instrument vorhanden, das bereits heute Korrekturen ermögliche. Dass dieses in der Praxis kaum mehr angewandt wird, fand bei der Mehrheit der Richterinnen und Richter kein Gehör.
Christian Haag, Anwalt des Klägers, prüft nun eine Klage vor dem Europäischen Menschengerichtshof (EGMR), da er die vom Bundesgericht abgesegnete Rechtspraxis für unfair und diskriminierend hält.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
SP-Alt-BGE-Präsident Meyer hat bei dessen IVG-Revision 2008 über 40 Diagnosen von arbeitsunfähigen Patienten ausgeschlossen, das vorliegende Falschgutachtensystem jur. legitimiert, einen med. & jur. Pflichtleistungswiderspruch zw. KVG & IVG geschaffen. SP-BR Berset stützt seit 2012 dieses polit.-jur. legalisierte Verbrechen. So auch den zusätzl. leistungsabwehrenden Invaliden/Valideneinkommenstrick. Berset wahrt so die polit. mehrheitsfähige IV-Kostendeckelung durch willkürl. menschendiskriminierende Rentenverweigerung, -Kürzung & Entzugs, fördert im Interesse der SP deren Sozialhilfeindustrie dank Abschiebung in die Sozialhilfe. Diesem willkürlich menschendiskriminierenden Treiben unserer Politiker & Bundesrichter kann nur über ein Bundesverfassungsschutzgericht Einhalt geboten werden. Das EGMR stellt nur eine Notlösung dar, an welche sich unsere Politiker nicht halten müssen, wie bei der Problematik der Sozialdetektive trotz EGMR danach geschickt umgangen, aufgezeigt werden kann.
– Krankenkasse verweigert Klinikaufenthalt
– Anmeldung bei der Invalidenversicherung IV wird abgelehnt
– Regierungsrätin schickt Betroffenen zum Sozialamt
– Krankenkasse sperrt willkürlich widerrechtlich ganze Familie inkl Kinder
– Sozialamt verzögert Anmeldung um 18 Monate
– Aufsicht funktioniert absichtlich nicht
– Sozialamt misshandelt Betroffenen
– Aufsicht funktioniert absichtlich nicht
– Sozialamt schickt Betroffenen zum Arbeitsamt
– Arbeitsamt würde Betroffenen zur IV schicken
– usf
– Krankenkasse verweigert lebenswichtige Medikamente (Schwarze Liste säumiger Prämienzahler des Kantons; auf die Liste kam der Betroffene wegen Versäumnissen des Sozialamts)
– Beim Bund schickt man den Betroffenen wieder zum Kanton
– Alle übrigen Instanzen zucken mit der Schulter
– Der unentgeltliche Anwalt des Betroffenen kaut nun schon 7 volle Jahre an einer Neuanmeldung bei der IV
Der Betroffene musste seine berufliche Selbständigkeit folglich aufgeben.
Aber sonst ist heute wieder alles klar…
«Das Bundesgericht argumentierte: die IV sei nicht Partei, sondern neutral.» Bei den Entscheiden des Bundesgerichts entsteht eher der Eindruck dass das höchste Schweizer Gericht Partei, und alles andere als «neutral» und vor allem unabhängig ist!
Seit Jahrzehnte das gleiche Übel: Beeinträchtigten Menschen werden Barrieren aufgebaut und als Menschen 2. Klasse abgestempelt. Der Armee und den Bauern wird das Geld nachgeworfen. Das ändert erst wenn es eine Rot / GRüne Mehrheit gibt.