Die Kranken müssen künftig noch mehr selber zahlen
Wer krank wird, zahlt heute zuerst einmal mindestens 300 Franken pro Jahr aus der eigenen Tasche. Wenn die Behandlungen mehr kosten, müssen die Kranken mindestens zehn Prozent der Arzt- und Medikamentenrechnungen selber zahlen – bis zu einem Betrag von 700 Franken jährlich.
Nach dem Ständerat hat am 19. März auch die bürgerliche Mehrheit im Nationalrat mit 114 gegen 75 Stimmen und 2 Enthaltungen beschlossen, die Mindestfranchise von 300 Franken künftig zu erhöhen. Die genaue Höhe kann der Bundesrat festsetzen. SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr meinte, man könne damit die «Eigenverantwortung wie auch das Kostenbewusstsein stärken» und direkt zur Reduzierung der Prämien beitragen.
Statt der grossen Mehrheit der Erkrankten zu unterschieben, sie würden unnötig Ärzte und Spitäler aufsuchen oder zu viele Medikamente schlucken, hätte das Parlament schon lange Pharmakonzerne, Hersteller von Prothesen, Labore, Spitäler und Spezialärzte finanziell zur Kasse bitten können, um deren «Eigenverantwortung und Kostenbewusstsein» zu stärken.
Am Schluss auf Kosten von Sozialhilfe- und Ergänzungsleistungen
Als angebliches Mittel gegen die übermässig steigenden Krankenkassenprämien bitten Parlament und Bundesrat nur die Prämienzahlenden zur Kasse, die im Parlament über die schwächste Lobby verfügen.
Tatsächlich aber ändert eine höhere Mindestfranchise an den hohen und ständig steigenden Kosten der Grundversicherung praktisch nichts. Nur die Finanzierung wird anders aufgeteilt. Vor allem die ältere Generation, die mehrheitlich die heutige Mindestfranchise von 300 Franken wählt, muss mehr aus der eigenen Tasche zahlen. Falls dies unzumutbar ist, kommen Sozialhilfe und Ergänzungsleistungen zur Kasse.
Die Schweizerinnen und Schweizer zahlen schon heute viel mehr ihrer Gesundheitskosten selber als dies in vielen anderen Ländern Europas der Fall ist. Trotzdem sind die Kosten der Grundversicherung bei uns höher als in diesen anderen Ländern.
Statt die Finanzierung neu zu verteilen, endlich Kosten sparen
Sara Stalder vom Konsumentenschutz reagierte nach dem Nationalratsentscheid: «Die Schweizer Bevölkerung hat im internationalen Vergleich eine überdurchschnittlich hohe Kostenbeteiligung. Es braucht langfristig wirksame Massnahmen, damit die Gesundheitskosten gedämpft werden.»
Tatsächlich werden die Gesundheitskosten höchstens unmerklich weniger steigen, wenn die Kranken einen höheren Anteil der Rechnungen selber zahlen.
Unberührt dagegen bleibt ein Sparpotenzial von mehreren Milliarden Franken im Jahr – ohne die Leistungen der Grundversicherung zu schmälern. Verschiedene Gesundheitsexperten machen schon lange darauf aufmerksam.
Doch Pharma, Spitäler, Apotheken, Ärzte und Hersteller von Medizinprodukten und deren Lobbys verteidigen ihre Anteile an den unterdessen über 50 Milliarden Franken, die sie allein mit den obligatorisch versicherten Leistungen der Grundversicherung verdienen können. Dazu dienen den Lobbyisten im Parlament alle erdenklichen Tricks, Kniffe, irreführenden Informationen auf Hochglanzpapier sowie Einladungen von Parlamentariern.
Über gute, aber bescheidene Ansätze in die richtige Richtung wurde viel geredet und geschrieben. Aber das lenkt davon ab, dass sich in den letzten Jahrzehnten nichts Entscheidendes verbessert hat:
- In der Schweiz gibt es immer noch zu viele Akutspitäler: In diesen gibt es ein ganzes Drittel mehr Spitalbetten pro Einwohner als in den Niederlanden und sogar über 60 Prozent mehr als in Dänemark und in Schweden – mit entsprechend mehr und längeren Behandlungen. Viele dieser Spitäler führen heikle Operationen nur wenige Male im Monat durch – das erhöhte Risiko tragen die PatientInnen.
- In keinem Land Europas müssen die Krankenkassen für Medikamente so viel Geld ausgeben wie in der Schweiz: jeden vierten Prämienfranken (einschliesslich der Spitalmedikamente). Die Krankenkassen werden noch immer gezwungen, auch viele unwirtschaftliche und unzweckmässige Medikamente zu vergüten.
- Die Qualität der Spitäler wird in der Schweiz viel weniger gut erfasst als etwa in England, Schottland, Holland, Dänemark, Schweden, Norwegen oder in Australien. Weniger Komplikationen und weniger ungeplante Nachoperationen würden nicht nur viel Leid ersparen, sondern auch die Kosten senken. Doch Chirurgen in der Schweiz überlassen beispielsweise Patienten mit neuen Hüft- und Kniegelenken meist ihrem Schicksal. Seit 30 Jahren schaut das BAG tatenlos zu.
Viele SVP-, FDP- und Mitte-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier vertreten direkt die Interessen von Ärzten, Apothekern, Spitälern und Krankenkassen. Deshalb scheitern fast alle vernünftigen Vorschläge, welche die Kosten unseres Gesundheitssystems auf ein ähnliches Niveau wie in Skandinavien oder in Holland senken würden.
Einen gemeinsamen Nenner finden diese «Gesundheitspolitiker» schon seit Jahrzehnten fast immer nur dann, wenn ein neues Gesetz oder eine neue Regulierung zusätzliches Geld ins System fliessen lassen.
Alle Vorschläge, die den Verdienst von Gesundheitsdienstleistern schmälern würden, haben praktisch keine Chance.
Auch die Erhöhung der Franchise hätte im Parlament wohl keine Chance gehabt, wenn Spitäler, Medizinproduktehersteller, Spezialärzte, Apotheken etc. befürchten würden, dass damit tatsächlich Geld gespart wird.
Mit einer erhöhten Franchise wird Geld nur umverteilt – zu Lasten der Kranken.
Tipp zur Wahl der Franchise
Für Versicherte sind entweder die tiefste Franchise oder die höchste Franchise finanziell am interessantesten. Das haben die Professoren Tilman Slembeck und Martin Kolmar ausgerechnet. Tatsächlich aber wählen etwa 40 Prozent der Versicherten eine mittlere Franchise nach dem intuitiven Gefühl, dass eine «mittlere» Variante vorteilhaft sei. Freuen können sich darüber nur die Krankenkassen, die mit den mittleren Franchisen ein besseres Geschäft machen.
NZZ vom 2.12.2015
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.
Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Die einfachste Möglichkeit, um die Gesundheit der Bevölkerung zu steigern, die Eigenverant-wortung für die Gesundheit zu fördern und die Kosten für das System zu senken wäre, das Obligatorium aufzuheben.
Als zweites dürfte es unter dem Stichwort «echte Solidarität» angezeigt sein, von der Kopfprämie wegzukommen und die Prämien nach Höhe von versteuertem Einkommen und Eigentum festzulegen.
Drittens könnte zur Förderung der allgemeinen Transparenz die Trennung von Grund- und Zusatzversicherung aufgehoben werden.
Und viertens würde die Eigenständigkeit der Versicherten ungemein gesteigert, wenn die Kassen den von den Versicherten gewählten Franchisenbetrag – heute zwischen 300 und 2500 Franken – ebendiesen Versicherten im ersten Quartal des Folgejahres auszahlen würden, sollten diese während des Vorjahres weniger Krankheitskosten als den Franchisenbetrag angemeldet haben.
Was ist der Sinn der Mindestfranchise? Man bezahlt schon nicht wenig für die Krankenkasse, jede erwachsene Person unabhängig vom Einkommen gleich viel. Nein falsch, ältere Menschen bezahlen mehr.
Es ist in Ordnung, wenn man sich mit einer Franchise einen Rabatt erkaufen kann, weil man sich selbstverantwortlich an den Kosten beteiligt. Aber was soll eine Mindestfranchise neben den obligatorischen Prämien? Sie sollte CHF 0 betragen statt erhöht werden.
Es stimmt nicht, dass jede erwachsene Person unabhängig vom Einkommen gleich viel Prämien zahlt. Etwa jeder dritte Erwachsene profitiert von einer Prämienreduktion. Dafür geben Bund und Kantone mehrere Milliarden aus.
Es stimmt auch nicht, dass ältere Menschen höhere Prämien zahlen. Bei der Grundversicherung gibt es ab dem Alter von 25 keine vom Alter abhängige unterschiedlichen Prämien.
Wiederholungen : Rechtsbürgerliche Mehrheiten kuschen vor den Ärzten, der Pharma und den Spitalleitungen. Das Fussvolk muss dafür bluten. Bei den nächsten Wahlen dran denken, wer etwas für das Volk tut.