Kommentar
Die AHV ist nachhaltig – die 2. Säule bei weitem nicht
Angriff ist die beste Verteidigung, sagte sich Hansueli Schöchli von der NZZ, als er jüngst die neuste Statistik zu den Verwaltungskosten der 2. Säule kommentierte. Diese belaufen sich auf jährlich 6,8 Milliarden Franken gegenüber 550 Millionen bei der AHV. Eins zu Null, bzw. 12 zu 1 für die AHV. Doch die AHV-Freunde haben sich zu früh gefreut, denn Schöchli macht schon im zweiten Satz klar, dass es sich bei dieser um ein «Pyramidensystem» handle. Das ist nicht ganz falsch, denn so wie beim Pyramidensystem die Renditen aus den laufenden Einzahlungen der Neukunden finanziert werden, zahlt auch die AHV die Renten aus den laufenden Einnahmen. Doch anders als bei einem klassischen Pyramiden- oder Schneeballsystem ist damit keinerlei betrügerische Absicht verbunden. Alle Beteiligten wissen, dass es sich bei der AHV um ein Umlagesystem handelt. Von einem Pyramidensystem zu reden, ist billige Polemik.
Pensionskassenrenten (fast) nur für die Reichen
Auch Schöchlis zweiter Vorwurf an die AHV hat einen wahren Kern: «Die AHV ist geprägt durch starke versteckte Umverteilungen – von oben nach unten und auch von Jung zu Alt.» Ja, es gibt die Umverteilung von oben nach unten, aber sie ist nicht versteckt, sondern war von Anfang an ein erklärtes Ziel der AHV. Weil auch auf den Lohnbestandteilen über 88’000 Franken die vollen AHV-Beträge bezahlt werden müssen, kann man auch mit tiefen Löhnen eine relativ hohe AHV-Rente beanspruchen. Wie sich diese geplante Subvention auswirkt, zeigt ein Blick auf die Statistik der Haushaltseinkommen der Rentner-Paare. Danach kassieren alle Einkommensquintile mit rund 3200 Franken in etwa gleich viel Rente aus der AHV und IV, inklusive Ergänzungsleistungen. Bei den Pensionskassen hingegen sind die Renten des reichsten Fünftels der Rentnerpaare rund 15-mal so hoch wie die des ärmsten Fünftels. Ja, die AHV ist ein grosser Gleichmacher.
Auch der Vorwurf der Umverteilung von Jung zu alt ist – so wie es Schöchli formuliert – nicht ganz falsch. «Zitat: Die meisten Rentner ziehen zulasten der Jüngeren und der Gutverdiener mehr Geld aus der AHV heraus, als sie einbezahlt haben.» Das ist deshalb richtig, weil die Renten laufend an die Teuerung und die Lohnentwicklung angepasst werden. Die Rentner profitieren deshalb von der von den Jungen erarbeiteten Produktivitätssteigerung mit. Sie kassieren – im Normalfall – mehr als sie einbezahlt haben. Doch auch das war vom Gesetzgeber eingeplant und es ist auch volkwirtschaftlich sinnvoll, dass sich die reale Kaufkraft der AHV-Renten in etwa gleich entwickelt wie die der Löhne.
Das Prinzip des Sparens für sich selbst
Der Begriff «versteckt» kommt in Schöchlis Text nicht weniger als fünfmal vor. Der geneigte NZZ-Leser muss den Eindruck gewinnen, als habe die NZZ in mühsamer Recherche herausgefunden, dass die AHV ein Instrument der Umverteilung von oben nach unten sei. Das gehöre seit langem zum Programm der politischen Linken. Der «ehrliche Weg zum Ausbau der Umverteilung», so mahnt Schöchli die Linke an, seien Vorstösse für eine steilere Steuerprogression.
Doch kommen wir nun zu Schöchlis wichtigster These. Danach ist das Kapitaldeckungsverfahren der zweiten Säule «wegen des Prinzips des Sparens für sich selbst» stabiler und somit nachhaltiger als das Umlageverfahren der AHV. Jeder Pensionskassenrentner erhält genau das, was er selber angespart hat. Stabil und nachhaltig. Zudem sei die 2. Säule «stabiler gegenüber demographischen Veränderungen».
0,5% weniger Zins gleich 16 Prozent weniger PK-Rente
Letztes ist klar falsch. Zwar hängt meine individuelle Rente nicht von der Entwicklung der allgemeinen Lebenserwartung ab, aber wenn ich selber statt 23 noch 25 Jahre lebe, muss ich mein Kapital entsprechend strecken und kann pro Jahr 8 Prozent weniger ausgeben. Was Schöchli nicht erwähnt, ist die hohe Abhängigkeit der 2. Säule von der Zinsentwicklung. Schon ein halbes Prozent weniger Zins über die ganze Laufzeit senkt die Rente um rund einen Sechstel. Das ist auch der Hauptgrund, warum der Umwandlungssatz der 2. Säule in knapp zehn Jahren von meist 6,8 Prozent in sehr vielen Fällen um rund einen Drittel auf unter 5 Prozent gesunken ist.
Nun aber zur eigentlichen Nachhaltigkeit. Pensionskassenguthaben und die entsprechenden Renten kann man nicht essen. Sie sind keine materiellen Reserven, sondern stellen lediglich einen Anspruch auf das BIP dar, bzw. auf die von den Aktiven produzierten Güter und Dienstleistungen. Wie sicher die Renten insgesamt sind, hängt also letztlich vom BIP und nicht von den 1200 Milliarden Franken Guthaben ab, die sich inzwischen bei den Vorsorgeeinrichtungen angehäuft haben.
Die Schweiz braucht die PK-Ersparnisse nicht
Nun kann man einwenden, dass die Sparbeiträge der 2. Säule real investiert werden und somit zur Erhöhung des realen Kapitalstocks beitragen und die Produktionskraft des BIP mehren. Der Realitätscheck zeigt folgendes: Im Schnitt haben die privaten Haushalte in den letzten zehn Jahren jährlich 75 Milliarden Franken gespart, wovon gut die Hälfte (nach Abzug der Renten- und Kapitalzahlungen) bei den Pensionskassen gelandet sind. Insgesamt belief sich aber der reale Investitions- bzw. Finanzierungsbedarf der ganzen Schweiz (Staat und Unternehmen) bloss auf 31 Milliarden jährlich. Wir legen somit fast 60 Prozent unserer Ersparnisse – notgedrungen – im Ausland an. Die durch die Pensionskassen verursachten Zusatz-Ersparnisse tragen per Saldo nichts dazu bei, unseren realen Kapitalstock zu stärken und so die Renten sicherer zu machen.
Kommt dazu, dass sich unsere im Ausland angelegten Ersparnisse in Franken gemessen tendenziell abwerten. Allein in den vergangenen vier Quartalen ist unser Nettoauslandvermögen um nicht weniger als 175 Milliarden geschrumpft. Eigentlich hätte es wegen des Leistungsbilanzüberschuss um 62 Milliarden Franken steigen müssen. Zugegeben: Das war ein extrem starker Rückgang, aber er passt ins Gesamtbild einer stetigen Vermögenserosion. Seit 2000 hat unser Auslandvermögen eine negative Rendite von jährlich 2,5 Prozent abgeworfen.
Die PKs blähen die Immobilienpreise auf
Dass die Pensionskassenguthaben in dieser Periode dennoch im Jahresmittel 2,8 Prozent (gemäss PK-Index der CS) Rendite abgeworfen haben, hat einen sehr unnachhaltigen Grund: Bevor unsere Ersparnisse ins Ausland abfliessen, drehen sie auf den Aktien- und vor allem auf den Immobilienmärkten noch ein paar Runden und treiben dabei die Preise hoch. Laut SNB ist deshalb der Marktwert allein des privaten Immobilienbesitzes (knapp 60 Prozent aller Immobilien) innerhalb der letzten 5 Jahre um nicht weniger als 541 Milliarden Franken gestiegen, während der entsprechende Substanzwert der Bauten bloss um etwa 40 Milliarden zugenommen hat.
Dieser Mehrwert von 500 Milliarden ist aber nicht nur heisse Luft, sondern die Grundlage, auf der die Immobilienbesitzer und Pensionskassen ihre Mieten berechnen. Die durchschnittliche Nettorendite, welche die Bodenbesitzer bei den Mietern eintreiben können, liegt aktuell bei gut 3 Prozent. Laut einer brandneuen Studie des Immobilienberaters Wüest Partner liegt die Wohnkostenbelastung des ärmsten Fünftels aller Mieterhaushalte je nach Haushaltstyp zwischen 45 und über 80 Prozent des verfügbaren Einkommens. Der Zusammenhang liegt auf der Hand.
Die mittlerweile 1236 Milliarden Franken Vorsorgeguthaben, die «jeder für sich selbst angespart» hat, beruhen also zu einem beträchtlichen Teil auf stark aufgeblähten Marktwerten. Diese sind nur deshalb so hoch, weil die Pensionskassen die Mieter massiv zur Kasse bitten können. Wenn es im Schweizer Vorsorgesystem eine versteckte Umverteilung gibt, dann ist es die von den Mietern zu den Bodenbesitzern. Und das ist alles andere als nachhaltig.
Aus 1000 mach 4500 Milliarden
Wie viel sozialer Sprengstoff da drin steckt, zeigt folgende Überschlagsrechnung: Der Marktwert aller kommerziell nutzbaren Liegenschaften liegt laut Wüest Partner bei 4500 Milliarden Franken. Der Substanz- bzw. Wiederbeschaffungswert aller Hochbauten beläuft sich laut Bundesamt für Statistik auf 1050 Milliarden. Wenn die beiden Statistiken vergleichbar sind, errechnet sich daraus ein Grundstückswert von 3450 Milliarden. Falls ferner der Trend zur Kommerzialisierung aller Immobilien anhält – wenn also alle Grundbesitzer eine Rendite von 3 Prozent anstreben – ergibt das eine Umverteilung zugunsten der Bodenbesitzer von 100 Milliarden Franken – pro Jahr wohlverstanden.
Das ist keine Prognose, sondern bloss ein Hinweis darauf, dass wir ein riesiges soziales Problem haben. Dieses wird durch den Sparzwang der 2. Säule noch deutlich verschärft.
Quelle: Immo-Monitoring 2023|1, Winter-Update
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
So weit spannend und erhellende, gerade die Zahlen zum Immobilienmarkt. Aber bez. der AHV habe ich schon eine Frage. Die Demographie (weniger Junge finanzieren mehr Rentner*innen) dürfte schon eine Herausforderung sein in den nächsten 20 Jahren. Das kann wohl nicht nur durch Produktivitätszuwachs aufgefangen werden, oder? Oder wenn die Bevölkerung mal nicht mehr wächst. Da sehe ich schon Aspekte eines Schneeballsystems. Eine Wirtschaft, die auf dauerndes Bevölkerungswachstum angewiesen ist, ist ja auch nicht nachhaltig.
Das Problem ist nicht nur die Demografie, sondern dass man die Refinanzierung der AHV nach wie vor überwiegend aus Lohnprozenten von in der Schweiz erzielten Löhnen betreibt. Von maschinell erledigter Arbeit und in’s Ausland verlagerter Arbeit bekommt die AHV praktisch nichts. Man müsste auch beim Geld etwas mehr gesamtheitlich denken. Hat die Anzahl Rentner / Erwerbstätige überhaupt einen Einfluss auf die Gesamtgeldmengen (M0, M1, M2, M3)? Funktioniert das Geld der Erwerbstätigen anders als das der Rentner? Schmilzt das Geld der Rentner weg? Mehr Rentner bedeuten nur zuerst einmal mehr Kosten. Später ergeben sich aber auch mehr Ausgaben DURCH die Rentner. Für ein Geschäft macht es keinen Unterschied, ob es den Umsatz mit Rentnern oder Erwerbstätigen macht. Lösung wäre, die AHV direkt dem Produktpreis zu belasten, statt über den Umweg Löhne. Dann wären die «Lecks» abgedichtet. Warum führt man dagegen die MwSt direkt vom Produktpreis ab und nicht auch von den Löhnen?
Sehr guter Einwand, eine gesamtheitlichere systematische Betrachtung täte not. Die gleichen Frage könnte man auch bei der Besteuerung stellen. Da gibt es aber politisch ein dickes Brett zu bohren. Das System zu hinterfragen wird nicht gern gesehen…. Da rennt man lieber weiter gegen die Wand.
Guter Artikel, es wäre auch zu erwähnen, das gerade die PK’s, insbesonder solche die von Versicherungsgesellschaften geführt werden, in letzter Zeit im Rampenlicht standen, weil sie sich auf Kosten ihrer Versicherten bereichert haben und niemand genau sagen kann, wieviel abgezwackt wurde.
https://www.infosperber.ch/gesellschaft/versicherungskonzerne-zwackten-bei-der-2-saeule-milliarden-ab/
Die unberuhigende Erkenntnis ist, dass es die meisten Pensionierten, je länger um so mehr schwerer haben und die jüngeren Generationen durch die Explosion der Immobilienpreise weniger sparen können, somit ist im Endeffekt das Resultat unserer PK’s genau das Gegenteilige von dem was man damit erreichen wollte.
Danke für die detailreichen Ausführungen — diese sozial unfaire und gesellschaftlich zersetzende Vermögens-Umverteilung von Mietern zu Immobiliengesellschaften / Grossgrundbesitzern ist ein Zeichen des Versagens unserer Politik!
Ich träume davon, dass die VR’s und CEO’s der Immogesellschaften mal 2 Jahre in einer Strohhütte in Verbannung leben müssten und dann mit ihren Millionen-Salär Nötli Feuer machen könnten.
Die Politik hat nur versagt, wenn sie die Interessen der Bürger gemacht hätte, da sie aber wohl eher die Interessen der Versicherer vertritt, haben die Stimmbürger versagt, weil sie die falschen Politiker gewählt haben.
Als in den Achtzigerjahren das Gespenst der (privaten) obligatorischen Pensionskassen (2. Säule) die Schweiz bedrohte, habe ich mit allen Mitteln dagegen angekämpft. Ich habe den Braten von weit her gerochen, worum es da ging. Zu jener Zeit gab es weit über 10’000 kleinste, kleine, mittelgrosse und sehr grosse Pensionskassen in der Schweiz. Sie waren den Banken und Versicherungs-Gesellschaften ein Dorn im Auge, weil sie deren Geschäft vermiesten, respektive deren Renditen verwässerten. Also mussten sie weg! Das haben die Finanzinstitute dank starkem Lobbying geschafft. Und nicht nur das; sie haben sogar erreicht, dass 1985 die 2. Säule mit dem BVG zum Obligatorium erklärt wurde. Das ist ungefähr so, als würden alle Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz per Gesetz verpflichtet, nur noch bei der «Migros» einzukaufen. Das von mir befürchtete Szenario ist dann auch eingetreten: Wohnraum und Wohneigentum wurden wegen PK-Investitionen unbezahlbar, mit obligatorisch ergaunertem Kapital.
Wenn ich mich richtig erinnere, war die SP die einzige Partei, die damals gegen das unsägliche Pensionskassengesetz war.( Die SP war da noch eine Partei mit Weitblick.). Die überteuerten Wohnungskosten kann man aber nicht nur den Pensionskassen in die Schuhe schieben. Das Problem hat man in allen Ländern in Grosstädten mit freiem Wohnungsmarkt. Wo viele Gewinne gemacht werden, muss auch viel investiert werden. Das geht am einfachsten mit Liegenschaften. In deutschen Grossstädten ist das Problem genauso vorhanden.
Ihre Erinnerung ist falsch. Die SP und die Gewerkschaften waren damals gegen die Volkspensions-Initiative – wohl hauptsächlich weil sie mit der PdA von der falschen Ecke lanciert wurde. Die Initiative wurde am 3. Dezember 1972 mit einem Anteil von 84 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Damit war der Weg frei für die 2. Säule mit den privaten Pensionskassen. Siehe: Je tiefer die AHV, desto besser für private Versicherer.
Auch das ist nicht ganz richtig. NZZ vom 19.1.1971: «Eine abweichende Hallung von den bürgerlichen Parteien und von den übrigen Kreisen der Wirtschaft vertritt der Gewerbeverband bei der Ausgestaltung der betrieblichen Altersvorsorge. Um jedermann, auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, einen ausreichenden Lebensstandard zu garantieren, wird ein weiterer Ausbau der auf dem Umlageverfahren basierenden AHV unter Beibehaltung von ergänzenden und
zweifellos noch auszubauenden fakultativen Institutionen der zweiten Säule propagiert.»