Das böse Spiel am Runden Tisch
Der Film «Assessment – Runder Tisch» von Mischa Hedinger, ausgestrahlt auf SRF 1 am 20. November 2014, 00.15h, lässt uns VertreterInnen sozialer Institutionen über die Schultern schauen, wie sie versuchen, mit Erwerbslosen in einer Stunde einen Plan für die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu entwickeln.
«Seit einigen Jahren findet in der Schweiz eine verstärkte Zusammenarbeit der Sozialversicherungen und -dienste statt. Wichtigster Bestandteil dieser interinstitutionellen Zusammenarbeit sind sogenannte Assessments. In einem Assessment (engl. für Abschätzung, Beurteilung, Prüfung) beurteilen Vertreter der Invalidenversicherung, der Regionalen Arbeitsvermittlung und der Sozialdienste gemeinsam die Situation eines erwerbslosen Menschen.» Heisst es in der Vorschau von SRF.
Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich Wildfremden mein Leben mit seinen Brüchen offenbaren, mich kooperativ erweisen und meine Träume deren Realitäten unterwerfen müsste. Ich, der ich nie wirklich jemanden als ChefIn akzeptiert habe. Zum Glück habe ich mich (bisher) ohne finanzielle Unterstützung durchs Leben bringen können. Ohne Stipendien, Arbeitslosengelder, Sozialhilfe. «Wo Menschen, die finanzielle Hilfe vom Staat beanspruchen, auf dessen Vertreter treffen, prägen Macht und Ohnmacht das Gespräch.» (SRF) Das zeigt Hedingers Film auf beklemmende Weise.
«Sie waren nahe dran.»
Menschen mit unterschiedlichsten Biografien – allesamt in (ökonomisch) prekäre Lebenssituationen geraten – landen an diesem beobachteten Tisch. Und da sitzen ihnen gegenüber vier oder fünf, die gebraucht und Monat für Monat entlöhnt werden, dreizehn Mal im Jahr. Auch dafür, dass die Unterstützung durch «den Steuerzahler» minimiert werden kann. Während der eine nach jedem Strohhalm greift und sich jede Tätigkeit zumuten lässt, weint die andere beim Gedanken daran, ihre geliebten Tierchen wegen einer Integrationsmassnahme während Tagen nicht streicheln zu können. «Es haben sich schon viele Institutionen bemüht, in der Absicht, Sie zu unterstützen», wird ihr ins Gewissen geredet und gedroht: «Wenn Sie sagen, nein, ich will das nicht, sind Sie vielleicht plötzlich auf sich selber gestellt.»
«Ich möchte arbeiten», murmelt eine andere und erntet Lob: «Das hört man stark heraus.» «Und nicht vom Staat unterstützt werden.» Aber ihre bisherigen Bemühungen blieben ohne Erfolg. Beim letzten Mal ist sie in die Endauswahl gekommen. «Da war es 50:50.» «Da sind Sie weit gekommen», sagt der Sozialprofi, und es ist unterstützend gemeint. «Aber es war doch eine Absage.» Klagt sie. «Sie waren nahe dran», auch das ist als Aufmunterung gedacht, «jetzt müssen Sie noch mehr Gas geben».
Für 9% invalide erklärt
Dem ehemaligen Typographen, der später, als umgeschulter Operationspfleger, Operationen koordinierte und vor Jahren einen Motorradunfall hatte – «Es war ein Selbstunfall», zitiert einer aus den Akten, «er fuhr mit voller Wucht in eine Mauer» –, hat die Invalidenversicherung nach umfangreichen medizinischen Abklärungen beschieden, er sei «bei abwechselnden, leichten Tätigkeiten voll arbeitsfähig», und ihn gerade mal für 9% invalide erklärt. Eine Frau am Tisch stellt, noch bevor der Betroffene Platz genommen, Fragen ohne Antwort in den Raum: «Was für Ziele hast du, wenn du in einem Etagenzimmer lebst, keinen Beruf mehr ausübst, ein loses Beziehungsnetz hast und 54 Jahre alt bist. Was sind deine Ziele für die nächsten zwanzig Jahre? Wie willst du leben?» Und weiss doch, die Frage ist nicht, wie will er leben, sondern wie kann, wie muss er leben.
Nachdem der Mann, der zum Fall geworden ist, den ihm zugewiesenen Platz eingenommen hat – seltsamerweise oben am Tisch, so dass das Bild ohne Ton ganz andere Machtverhältnisse suggeriert –, beschreibt er die Lage aus seinem Winkel. Redet in präzisen Sätzen, die Wunden aufreissen, aber scheinbar ohne Emotion, und dafür wird er den Preis bezahlen. «Ich weiss nicht, was ich machen soll, wie meine weitere Zukunft aussieht. Mit dem Unfall starb ich in meinem alten Leben. Was tot ist, kann ich nicht mehr reanimieren.» Keine und keiner fragt, wie er sich damit fühle. (Oder hat der Filmer das herausgeschnitten?)
Etwas «abstrakt» klinge das, moniert jemand am Tisch. «Es klingt wahrscheinlich sehr intellektuell», bemüht er sich um Haltung, starrt vor sich hin, wirkt verzweifelt, als er weiterfährt: «Ich habe grosse Schwierigkeiten, mich in dem Leben, was um mich herum stattfindet, zurechtzufinden. Es gibt einen enormen Druck von allen Seiten, ich bin dieser und jener Institution und den Leuten Rechenschaft schuldig.» Niemand reagiert, fast trotzig schiebt er nach: «Es geht doch primär um den Lebensunterhalt. Deshalb sind wir ja da, dass ich mich wieder eigenständig finanzieren kann… Soll ich jetzt, um des Friedens willen, irgendwo eine Arbeit verrichten, bei der ich todunglücklich bin und nicht die geringste Befriedigung erfahre.» Jetzt müsste, ehrlicherweise, jemand sagen: Genau, das wird von ihnen erwartet. Aber keine und keiner sagt es. Einer räumt ein: «Klar, wir sitzen hier mit der IV und dem Sozialdienst zusammen, und da gibt es gewisse Erwartungen. Da stehen Sie unter einem gewissen Erwartungsdruck, obwohl man noch klären könnte, wie gross der ist.»
«Ich muss nicht beschäftigt werden. Ich brauche Arbeit.»
Er empfindet den Druck als gross. Später wird er sich ereifern: «Wir wollen den Strässle einfach irgendwo unterbringen. Er ist Persona non grata, und so geht das nicht. Er liegt uns auf der Tasche.» Sagt noch: «Das nervt mich gewaltig», um sich umgehend zu entschuldigen: «Ich bin jetzt vielleicht etwas frech, ich beruhige mich gleich wieder.» Er weiss, frech darf einer in seiner Lage nicht werden. «Unser Ziel», hält der Vertreter der IV fest, «ist es nicht, Ihnen das Gefühl zu geben, jemandem auf der Tasche zu liegen.» Die Sozialwahn-Debatte ist am Runden Tisch angekommen: «Aber das ist das, was man permanent hört. Jeden Tag lese ich das und habe ein schlechtes Gewissen, und denke, gopfertammi, Strässle, du kommst nicht vom Fleck! Und zum Monatsende holst du dein Geld ab. Glauben Sie mir, das ist alles andere als lustig und befriedigend.»
Der Mann von der IV versucht, ihn auf den Boden zurückzuholen: «Ihre Aufgabe ist es, soweit das möglich ist, Ihr eigenes Leben zu bewältigen. Ökonomisch, aber nicht nur, sondern auch sonst irgendwie einen Sinn und ein Ziel zu haben.» Der Mann, der sich selber Strässle nennt, kommt dem Profi schon von der anderen Seite entgegen, wie der Igel dem Hasen: «Und was mache ich, wenn ich feststellen muss, dass mir das selber nicht möglich ist? Sehen Sie, ich frage euch jetzt alle, wie klingt diese Aussage von diesem Strässle für euch?»
«Ich finde es sehr verwirrend, was Sie daherreden», platzt einem am Tisch der Kragen. Jetzt sind sie plötzlich da, die Emotionen. «Ich habe schon vor längerer Zeit abgeschaltet, weil das nichts mehr bringt.» Verstrickt sich in ein PingPong mit dem, den er unterstützen sollte und der ihm jetzt vorwirft: «Sie sind nicht auf mich eingegangen. Sie haben zugemacht.» «Für mich reden Sie wirres Zeug», gibt der Profi zurück und schiebt ein paar Sätze später nach: «Sie scheinen mir daran geübt zu sein.» Bevor die Damen und Herren am Tisch sich nur noch durch ein Timeout zu helfen wissen, beharrt der Vorgeladene darauf: «Ich versuche, offen zu sein. Ich muss nicht beschäftigt werden. Ich kann mich sehr gut selber beschäftigen. Ich brauche Arbeit. Geben Sie mir eine sinnvolle Arbeit, bei der ich sagen kann, das ist eine vernünftige Arbeit.»
«Der treibt ein ganz böses Spiel mit uns.»
Als der, um den es eigentlich geht, draussen ist, macht sich der geplatzte Kragen endgültig Luft: «Der treibt ein ganz böses Spiel mit uns. Ich lasse mich nicht gebrauchen von solchen Leuten.» Von Undankbaren, die noch in dieser Situation Ansprüche stellen. Nicht nur Beschäftigung, sondern sinnvolle Arbeit fordern. Der Mann von der IV übernimmt den Job des Überbringers schlechter Nachrichten: «Grundsätzlich geht es uns wahrscheinlich ähnlich, wir haben keine Lösung.» Für den einen eine unerledigte Pendenz, für den andern ein Leben ohne Perspektive.
«Wir würden hier abbrechen, würden auch keinen Integrationsplan, wie wir das nennen, also keine Ziele und Massnahmen definieren.» Dann schweigen sich die Damen und Herren am Tisch in den Abspann. Betreten. Aber die Hilflosigkeit ist keine verbindende. Für die einen hat der andere eine Lösung verhindert, für den anderen war der Druck der einen zu gross.
Der Kontext, in dem die Verhandlung stattfindet, wird nie Thema. Die gemeinsame Ohnmacht gegenüber den sozioökonomischen Verhältnissen – die bestimmen, welche Menschen die Chance erhalten, ein sinnvolles Leben in materieller Gemütlichkeit zu leben, welche gebraucht und fürs Nötigste entschädigt werden, welche nicht – macht aus dem Gespräch am Runden Tisch ein böses Spiel. Und natürlich gibt es in Mischa Hedingers «Assessment» noch ganz andere Filme zu sehen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
"Ich, der ich nie wirklich jemanden als ChefIn akzeptiert habe» gefällt mir. Der Artikel ist sehr berührend und macht nachdenklich. Ist das bedingungslose Grundeinkommen für alle nicht eine sehr bedenkeswerte Idee?
…. ja das ist ein tröstlicher Kommentar zu diesem Film … ohne diesen würde man ihn kaum aushalten … Sätze wie «Ihre Aufgabe ist es, soweit das möglich ist, Ihr eigenes Leben zu bewältigen. Ökonomisch, aber nicht nur, sondern auch sonst irgendwie einen Sinn und ein Ziel zu haben.» einem erwachsenen Menschen in dieser Situation hinzurattern sind extrem demütigend. Auf solche ‹Einsichten› ist ein über 50jähriger wohl noch nie gekommen. … Die gehörlose Frau kann der Brutalität dieses Verhörs und den runtergespuhlten Belehrungen ’nur› mit Tränen antworten. … und vielleicht nicht, weil sie daran denkt «ihre geliebten Tierchen wegen einer Integrationsmassnahme während Tagen nicht streicheln» zu können. Es wird offenbar wie den Menschen in Assessments, Settings und wie diese angeordneten Dinge so heissen, besonders dann wenn sie eine andere oder keine Sprache haben, alles mögliche unterstellt wird, und zur Projektionsfläche verkommen. Es scheint als kommen Funktionäre nicht auf die Idee, dass Hilfebedürftige für die Fehler auch von anderen krummstehen müssen. Das billigste, im Besten Sinn, wäre den Menschen einfach das nötige Geld zu geben und nicht die ganzen administrativen Abläufe nach den Kriterien des Sozialmissbrauchs, der ein winziger Teil ausmacht, auszurichten, sonst nehmen diese Züge einer Strafverfolgung an. Das ist dann nur noch kontraproduktiv. Für den Staatshaushalt sind andere volkswirtschaftliche Missbräuche und Fehler sicher massgebender.