Das Bevölkerungswachstum löst die Finanzierung der AHV nicht
Red. Autor Roland Schmutz ist Präsident des Vereins Umwelt und Bevölkerung Ecopop. Ein Gastbeitrag.
Die viel gehörte Aussage, die Schweiz brauche ein Wachstum der Bevölkerung, damit wir die AHV finanzieren können, greift zu kurz. Es gibt bessere Ansätze, um die künftige Altersvorsorge zu finanzieren.
Zuerst einige grundlegende Daten und Zahlen
Die Schweiz ist seit Mitte der 1940-er Jahre ein Zuwanderungsland. Zuvor gab es lange Phasen der Abwanderung. Seit 1945 verzeichnen wir mit ganz wenigen Ausnahmen jedes Jahr eine Nettozuwanderung. Seit 2003 beträgt der Wanderungssaldo sogar über 60’000 Personen pro Jahr.
Saldo der Ein- und Auswanderung von 1861 bis 2021:
Erstrebenswerte Altersstruktur
Das Folgende bezieht sich auf die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz. Personen im Asylwesen, welche weniger als ein Jahr im Land sind, zählen nicht dazu.
Die Finanzierung der AHV basiert auf einer Umlage von zahlenden Beschäftigten auf Rentnerinnen und Rentner. Je mehr Beitragszahlende auf einen Rentenbeziehenden fallen, desto besser ist dieses Umlageverfahren finanziert. Als die AHV am 1. Januar 1948 in Kraft trat und die ersten Renten ausbezahlt wurden, fielen 6 Beitragszahlende (in der Grafik grün) auf 1 RentnerIn (in der Grafik rot):
Im Jahr 1960 fielen 5,5 Beitragszahlende auf 1 Beziehenden. Die Altersstruktur der Schweiz schien ausgeglichen: leicht ansteigende Geburtenraten, ziemlich stabile Jahrgangskohorten bis zu den etwas über 50-Jährigen:
Eine einzige Unregelmässigkeit bei den 42 bis 46-Jährigen ist auf tiefere Geburtenzahlen der Jahrgänge 1914 bis 1918 während des ersten Weltkrieges zurückzuführen.
Bis 1964/65 nahmen die Geburtenraten (durchschnittliche Anzahl Kinder pro Frau) kontinuierlich zu und gingen dann wegen des «Pillenknicks» markant zurück.
Pillenknick und Zuwanderung beeinflussten die Altersverteilung
1964 gab es in der Schweiz 110’044 Geburten. 2022, 58 Jahre später, zählt die Schweiz 129’571 58-Jährige. Der ohnehin schon starke Jahrgang 1964 hat sich wegen der Zuwanderung um fast 20’000 Personen oder um 18 Prozent vergrössert.
Das ähnliche Bild gilt für jeden Jahrgang der heute 30- bis 50-jährigen AHV-Zahlenden. Bedingt durch die Netto-Zuwanderung ist der Jahrgang 1978 von 70’404 Geburten auf 117’336 AHV-zahlende Personen im Jahr 2022 angewachsen, also um 67 Prozent.
Im Zeitraum von 1972 bis 1992 zählte die Schweiz 1’624’752 Geburten. Diese AHV-zahlenden Jahrgänge im Alter von 18 bis 65 Jahren sind im Jahr 2022 – bedingt durch die Netto-Zuwanderung – um 59 Prozent auf 2’580’679 Personen angewachsen.
Kurzfristig hat sich diese Zunahme der AVH-zahlenden Beschäftigten auf die Finanzierbarkeit der AHV positiv ausgewirkt. Doch auch die heute 30- bis 50-Jährigen werden ins Rentenalter kommen. Die Finanzierung von deren Altersvorsorge würde aber wiederum ein weiteres Bevölkerungswachstum benötigen. Doch eine weitere Zuwanderung führt wieder zum gleichen Problem: Die AHV könnte eine Zeitlang von mehr Zahlenden profitieren, aber auch diese Zuwanderer werden das AHV-Alter erreichen. Die Bevölkerungs-Spirale müsste sich ohne absehbares Ende weiter nach oben drehen.
Nachhaltig kann diese Art Schneeballsystem nicht sein.
Heutige Ausgangslage
Im Jahr 2022 fielen noch 3,1 Beitragszahlende auf 1 Beziehenden. Dieses gute Verhältnis gibt es nur dank der hohen Zuwanderung in die Jahrgänge der heute 30- bis 50-Jährigen.
Künftige Szenarien mit unterschiedlicher Bevölkerungsentwicklung
Nach der gemäss Bundesamt für Statistik BFS wahrscheinlichsten Entwicklung der Bevölkerung sieht die Verteilung zwischen AHV-Zahlenden und AHV-Bezügern im Jahr 2030 wie folgt aus:
Es fallen im Jahr 2030 statt 3,1 wie im Jahr 2020 nur noch 2,6 Beitragszahlende auf 1 Beziehenden, obwohl die Bevölkerung auf prognostizierte 9,36 Millionen Menschen gestiegen ist.
Im Jahr 2058 fallen statt 2,6 wie im Jahr 2030 und statt 3,1 im Jahr 2020 nur noch 2 Beitragszahlende auf 1 Beziehenden – obwohl die Bevölkerung weiter auf prognostizierte 10,7 Millionen Menschen zugenommen hat.
Fazit: Die vom BFS zugrunde gelegte weitere Zunahme der Bevölkerung ab 2022 um 17,5 Prozent auf 10,7 Millionen löst das Finanzierungsproblem der AHV nicht. Das Argument, die Zahl der Einwohner und Einwohnerinnen in der Schweiz müsse weiter stark wachsen, um die AHV-Renten zu finanzieren, sticht nicht.
Damit die Bevölkerungszahl gleich bleibt, müssten die Frauen durchschnittlich 2,1 Kinder gebären. Tatsächlich sind es jedoch zurzeit nur 1,5 Kinder. Um die Zahl der Bevölkerung stabil zu halten, bräuchte es demzufolge bei aktueller Geburtenrate eine Nettozuwanderung von jährlich 25’000 Personen.
Die AHV-Finanzierung braucht andere Lösungen
Auf lange Sicht dürfte eine stabile Bevölkerung dazu führen, dass etwa 2,2 Beitragszahlende einen Beziehenden finanzieren (statt wie heute noch 3,1). Um die Beitragslücken zu decken, sind Lösungen wie flexibles Pensionsalter, höheres Pensionsalter, höhere Beiträge oder zusätzliche Finanzierungsquellen wie die Mehrwertsteuer oder eine Steuer auf Kapitalgewinne zu wählen.
Eine zusätzliche Netto-Einwanderung von Personen im Erwerbsalter kann das Finanzierungsproblem nur vorübergehend «lösen». Es ist eine Vogel-Strauss-Politik, die das eigentliche Problem auf Kosten eines massiven Bevölkerungswachstums nur hinausschiebt.
Das Argument, es brauche immer mehr Zuwanderung, um die AHV zu finanzieren, gehört endgültig in die Mottenkiste.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor ist Präsident von Ecopop.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Schöne Darstellung, wenn auch etwas allzusehr auf statistische Projektionen abstützend. Diese Szenarien bleiben reichlich spekulativ und werden auch, z.B. im Kanton FR als operative Grössen hinterfragt.
Die Finanzierung der Renten hängt auch vom durchschnittlichen Durchschnittseinkommen ab, da die Beiträge nominell nach oben unbeschränkt sind, die Leistungen aber auf 88’000 CHF gedeckelt berechnet werden.
Diese Solidaritätsleistungen können das AHV-Konstrukt auch noch bei divergierenden demographischen Entwicklungen «über die Runden bringen».
Das AHV-Problem müssten eigentlich unsere Politiker in Bern lösen. Aber offensichtlich sind das keine Problemlöser, sondern nur Selbstdarsteller auf Kosten der Steuerzahler.
Die AHV Finanzierung war damals eine gute Idee, aber nicht für alle Ewigkeit. Wenn sich die Umstände derart verändern, braucht es eben Ideen für eine grundlegende Veränderung, nicht nur «Pflästerli» Lösungen.
Die AHV muss zukünftig auf einer ganz anderen Basis finanziert werden, also nicht mehr als Beitrag der Werktätigen, sondern auf komplett anderen Lösungen wie z.B. einer Mikrosteuer auf Finanztransaktionen.
Ob das Prinzip der AHV überhaupt noch funktionieren wird und wie lange? Vergessen wir nicht, dass die Höhe der Einzahlungen in die AHV auch sinken, genauso wie die Löhne. Die heutigen Beitragszahler finanzieren den Bezügern ein Einkommen, dass bereits an der Grenze zum nicht mehr existenzsichernd ist und bei zukünftigen Bezügern wird das wohl deutlich unter dem Existenzminimum liegen müssen, wenn der Staat hier nicht massiv Geld der Steuerzahler nachschießen will.
Zudem geht man in allen Projektionen ebenfalls davon aus, dass es tatsächlich für alle, die arbeiten wollen (und sollen) auch tatsächlich genügend Jobs vorhanden sein werden, die genügend in die AHV einzahlen werden.
Es wäre wohl Zeit, das System AHV/Pensionskasse grundsätzlich zu überdenken…