Bundesrat entlarvt «Heiratsstrafe» als Schwindel
Statt einer «Heiratsstrafe» gibt es bei den Sozialversicherungen eine erhebliche «Konkubinatsstrafe». Nach dem neusten Bericht des Bundesrats von Ende März 2015 subventionieren Konkubinatspaare die Verheirateten und die eingetragenen Partnerschaften mit rund 800 Millionen Franken pro Jahr.
Die Rechnung
Die Rechnung sieht wie folgt aus: Bei den AHV-Renten erhalten verheiratete Pensionierte insgesamt rund 2 Milliarden Franken weniger Renten, weil die Ehepaar-Rente nach oben auf zusammen 150 Prozent zweier Renten plafoniert ist, während unverheiratete pensionierte Paare je eine volle Rente erhalten.
Ganz anders bei den übrigen Sozialversicherungen: Von diesen erhalten Verheiratete unter sonst gleichen Bedingungen rund 2,8 Milliarden Franken mehr als Konkubinatspaare.
Fazit des Bundesrats: Die Benachteiligung Verheirateter bei der AHV «darf nicht isoliert betrachtet» werden: «Berücksichtigt man die übrigen Leistungen der Sozialversicherungen, so lässt sich feststellen, dass Ehepaare und eingetragene Paare in den Sozialwerken gesamthaft bessergestellt sind als faktische Lebensgemeinschaften.»
Bei einer Gesamtbetrachtung der Sozialversicherungen sei festzustellen, dass es heute Solidaritätsflüsse von den unverheirateten zu den verheirateten Paaren gebe. Unverheiratete Paare können beispielsweise weniger von Beitragserleichterungen oder Hinterlassenenleistungen profitieren.
Bundesgericht hatte auf Benachteiligung der Konkubinatspaare hingewiesen
Das Bundesgericht kam Ende 2013 in einem Urteil* zum Schluss, dass Konkubinatspaare trotz der geltenden AHV-Regelung bei den Sozialversicherungen gegenüber Verheirateten finanziell insgesamt benachteiligt werden.
Begründung: Die Schlechterstellung von Verheirateten bei den AHV-Renten werde mehr als wettgemacht durch andere finanzielle Vorteile für verheiratete Paare und finanzielle Benachteiligungen von Konkubinatspaaren bei den Sozialversicherungen. Konkret:
- Bei der beruflichen Vorsorge und
- bei der Unfallversicherung und
- bei der Militärversicherung werden Ehepaare speziell geschützt oder gegenüber andern Versicherten privilegiert.
- Bei der AHV bekommen Witwen eine Rente, hinterbliebene Konkubinatspartnerinnen dagegen nicht.
- Eine nicht erwerbstätige Verheiratete oder ein nicht erwerbstätiger Verheirateter muss keine AHV-Beiträge zahlen, wenn der Ehegatte oder die Ehegattin genügend verdient.
Das höchste Gericht zeigt sich überzeugt, dass eine Aufhebung der «Heiratsstrafe» bei den AHV-Renten (Maximalrente nur 150% statt 200%) nicht zu einer Gleichbehandlung führen würde, sondern vielmehr zu neuen Ungleichheiten – und einer weiteren finanziellen Bevorzugung der verheirateten Paare.
Der CVP ist dies offensichtlich egal. Sie will gleichzeitig mit ihrer Initiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» an den finanziellen Privilegien von Verheirateten festhalten. Im Klartext: Sie will Verheiratete künftig noch mehr bevorteilen als bereits heute.
Überdies: Eine Annahme der Volksinitiative der CVP würde das Einführen einer Individualbesteuerung – unabhängig vom Zivilstand – als einfachste, gerechteste und zeitgemässe Art des Besteuern auf lange Sicht verhindern.
Verheiratete auch im Erbrecht massiv bevorteilt
Ausser bei den Sozialversicherungen sind Verheiratete auch im Erbrecht schwer bevorteilt und Konkubinatspaare benachteiligt: Während Ehegatten in der Regel steuerfrei erben können, müssen begünstigte Konkubinatspartner bis zu 40 Prozent des geerbten Vermögens an den Staat abliefern.
Ungleichheiten bei den Einkommenssteuern hat der Gesetzgeber in den letzten Jahren mit höheren Abzügen für Verheiratete ein grosses Stück weit ausgeglichen. Je nach Einkommen und Erwerbsverteilung kann es grössere Unterschiede zugunsten der einen oder andern geben.
—
*Urteil 9C_383/2013 vom 6. Dezember 2013, veröffentlicht am 26. Dezember.
—
Siehe auch
- «Tagesanzeiger und Bund halten an Heiratsstrafe fest» vom 19.1.2014
- «Einige Familienmythen begraben» vom 30.4.2014
- «DOSSIER: Ehe, Partnerschaft, Konkubinat» vom 30.4.2014
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Geht es bei der Heiratsstrafe nicht in erster Linie um die Besteuerung?